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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Herbsttage in varzin

einmal von Menschen gemacht, nicht von unpersönlichen Gesetzen, Kräften
und Ideen, und schließlich giebt doch alles, was ein bedentender Mann in
Reden, Briefen und Schriften hinterläßt, immer nur einen blassen Abdruck
seines Wesens im Vergleich zu dem Eindruck, den der persönliche Verkehr mit
ihm selber macht. Daher hatte ich als Historiker immer den lebhaftesten Wunsch
gehegt, mit dem Fürsten Vismarck, den ich gelegentlich wohl schon gesehen,
aber noch niemals gesprochen oder auch nur gehört hatte, in unmittelbaren
Verkehr zu treten. Eine nach langen Zweifeln und Erwägungen unmittelbar
an den Fürsten gerichtete Anfrage, ob er mir die Ehre erweisen wolle, mich
in Varzin zu empfangen, erhielt binnen wenigen Tagen eine freundlich be¬
jahende Antwort, und so fuhr ich Sonnabend den 29. Oktober mit dem
Abendschnellznge von Leipzig nach Berlin hinüber und bestieg dort den Peters¬
burger Schnellzug, der den Bahnhof an der Friedrichstraße kurz nach elf Uhr
nachts verläßt. Ans den hohen Viadukten der Stadtbahn fuhr der Zug an
Straßenzügeu, deren lange Laternenreihen sich in scheinbar endloser Ferne ver¬
loren, an hohen Hünscrfronten und dunkeln Flußarmen, in denen sich die
Lichter der Schiffe und Häuser spiegelten, und durch die riesigen Eisenwölbuugeu
der Bahnhofshallen über eine Viertelstunde lang dahin, bis er endlich hinaus¬
jagte in die dunkle freie Ebne. Nach halb vier Uhr stieg ich in Schneide-
mühl aus, mußte aber hier, da auf der dort sich anschließenden Bahn nach
Hinterpommern, die die Ostbahn mit der pommerschen Hauptlinie Stcttin-
Danzig verbindet, keine Nachtzuge gehen, gegen vier Stunden zubringen.

Doch bald stand das Morgenrot purpurn im Südosten, und die Sonne
ging prachtvoll auf; es wurde ein Heller, sonniger, wunderschöner Herbsttag.
Aus der breiten Netzeniederung, die meist von kahlen Höhenzügen begrenzt
wird, führte mich um 7.49 der Zug nordwärts in der Richtung nach Neu¬
stettin, meinem Ziele entgegen. Anfangs ging die Fahrt durch eine Wald-
zvne auf dem welligen Sandboden Pommereltens sWestprenßens) hin. Aus¬
gedehnte Nadelwälder, meist Kiefern, wechselten mit kleinen Saatflächen, da¬
zwischen öffnete sich zuweilen ein anmutiges Thal mit einem klaren Bache,
und in blauer Ferne zeigte" sich lange, niedrige Höhenzüge. Allmählich, etwa
jenseits der westpreußisch-pommerschen Grenze, wurde das Land flacher und
kahler; neben großen Ackerbreiten, auf denen die Wintersaat stand, dehnten
sich weite Flächen brauner Heide und schmutziggrüneu Weidelandes mit sum¬
pfigen Stellen. Traumhafte Stille lag über der einförmigen Landschaft. Selten
tauchte ein Hof oder ein Dorf auf, dann und wann eine kleine Stadt mit
roten Ziegeldächern um einen spitzen Kirchturm; auf den kleinen Bahnhöfen
war auch heute am Sonntag wenig Verkehr, und der Zug bestand nur aus
drei oder vier Wagen. In Neustettin, das an einem ansehnlichen Landsee,
aber in ganz flacher Gegend liegt, wechselte ich den Zug, um in der Richtung
auf Stolp weiterzufahren.


Herbsttage in varzin

einmal von Menschen gemacht, nicht von unpersönlichen Gesetzen, Kräften
und Ideen, und schließlich giebt doch alles, was ein bedentender Mann in
Reden, Briefen und Schriften hinterläßt, immer nur einen blassen Abdruck
seines Wesens im Vergleich zu dem Eindruck, den der persönliche Verkehr mit
ihm selber macht. Daher hatte ich als Historiker immer den lebhaftesten Wunsch
gehegt, mit dem Fürsten Vismarck, den ich gelegentlich wohl schon gesehen,
aber noch niemals gesprochen oder auch nur gehört hatte, in unmittelbaren
Verkehr zu treten. Eine nach langen Zweifeln und Erwägungen unmittelbar
an den Fürsten gerichtete Anfrage, ob er mir die Ehre erweisen wolle, mich
in Varzin zu empfangen, erhielt binnen wenigen Tagen eine freundlich be¬
jahende Antwort, und so fuhr ich Sonnabend den 29. Oktober mit dem
Abendschnellznge von Leipzig nach Berlin hinüber und bestieg dort den Peters¬
burger Schnellzug, der den Bahnhof an der Friedrichstraße kurz nach elf Uhr
nachts verläßt. Ans den hohen Viadukten der Stadtbahn fuhr der Zug an
Straßenzügeu, deren lange Laternenreihen sich in scheinbar endloser Ferne ver¬
loren, an hohen Hünscrfronten und dunkeln Flußarmen, in denen sich die
Lichter der Schiffe und Häuser spiegelten, und durch die riesigen Eisenwölbuugeu
der Bahnhofshallen über eine Viertelstunde lang dahin, bis er endlich hinaus¬
jagte in die dunkle freie Ebne. Nach halb vier Uhr stieg ich in Schneide-
mühl aus, mußte aber hier, da auf der dort sich anschließenden Bahn nach
Hinterpommern, die die Ostbahn mit der pommerschen Hauptlinie Stcttin-
Danzig verbindet, keine Nachtzuge gehen, gegen vier Stunden zubringen.

Doch bald stand das Morgenrot purpurn im Südosten, und die Sonne
ging prachtvoll auf; es wurde ein Heller, sonniger, wunderschöner Herbsttag.
Aus der breiten Netzeniederung, die meist von kahlen Höhenzügen begrenzt
wird, führte mich um 7.49 der Zug nordwärts in der Richtung nach Neu¬
stettin, meinem Ziele entgegen. Anfangs ging die Fahrt durch eine Wald-
zvne auf dem welligen Sandboden Pommereltens sWestprenßens) hin. Aus¬
gedehnte Nadelwälder, meist Kiefern, wechselten mit kleinen Saatflächen, da¬
zwischen öffnete sich zuweilen ein anmutiges Thal mit einem klaren Bache,
und in blauer Ferne zeigte» sich lange, niedrige Höhenzüge. Allmählich, etwa
jenseits der westpreußisch-pommerschen Grenze, wurde das Land flacher und
kahler; neben großen Ackerbreiten, auf denen die Wintersaat stand, dehnten
sich weite Flächen brauner Heide und schmutziggrüneu Weidelandes mit sum¬
pfigen Stellen. Traumhafte Stille lag über der einförmigen Landschaft. Selten
tauchte ein Hof oder ein Dorf auf, dann und wann eine kleine Stadt mit
roten Ziegeldächern um einen spitzen Kirchturm; auf den kleinen Bahnhöfen
war auch heute am Sonntag wenig Verkehr, und der Zug bestand nur aus
drei oder vier Wagen. In Neustettin, das an einem ansehnlichen Landsee,
aber in ganz flacher Gegend liegt, wechselte ich den Zug, um in der Richtung
auf Stolp weiterzufahren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/384>, abgerufen am 22.12.2024.