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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Brüder Grimm

an den Arbeiten der gelehrten Brüder Anteil nehmen und urteilen konnte,
kann uns heute nur die Zuversicht in Erstaunen setzen, mit der Goethes Teil¬
nahme erwartet und in gewissem Sinne gefordert wurde. So wenig kannte
jenes Geschlecht die siebenfachen Mauern der "Spezialität," so magnetisch
wirkten die gewaltige Natur, die außerordentliche Aufnahmekraft und die Uni¬
versalitnt Goethes auf die Menschen seiner Tage, daß man alles in seinem
Geiste gespiegelt, in seiner Welt lebendig gestaltet wünschte, daß man selbst
die Schranken, die anch diesem Größten gesetzt waren, immer lieber auf fremde
Einwirkungen als auf ein Nichtwollen oder Nichttonnen in Goethe selbst
zurückführte.

Die Brüder Grimm, die auch nach Goethes Heimgang fortfuhren, sich
in der Liebe zum Dichter zu stärken, in ihren großen grammatischen und
lexikographischen Arbeiten die sprachschöpferische Bedeutung Goethes ins hellste
Licht zu rücke" und dankbar zu verehren, scheinen sich in der Abneigung gegen
F. W. Riemer mit jeder Verstimmung abgefunden zu haben. Wenigstens
berichtet Steig, daß sie der werdenden Gvethelitteratur aufmerksam folgten.
"Keine dieser Publikationen entging deu Brüdern. Riemers Mitteilungen über
Goethe (1841) waren ihnen persönlich wohl am widerwärtigsten. Nicht mir
daß er gegen Bettinens Briefwechsel (!) und ihre öffentlichen Lobredner seine
hämische Bosheit richtete, auch die Grimm suchte er unter halber Berufung auf
Goethe direkt zu treffen. Denn die Stelle gegen die "Neuern und Neusten,"
die, statt in die Gegenwart tüchtig einzugreifen, rückwärts strebten und das
Kehricht des alten Aberglaubens, der Volkssagen, Märchen und Gespenster¬
geschichten wieder aufwühlten, um durch den erregten Staub und Dunst eine
künstliche Dämmerung zu verbreiten -- diese Stelle (I. 193) war deutlich
genug auf die Brüder Grimm berechnet, wie sie selber richtig empfanden. Ihre
instinktive Abneigung gegen Riemer (von der schon in den ersten Anfängen
des Buches die Rede ist) zeigte sich jetzt leider zu gut begründet. Dies war
der Mann, der im einzelnen einen verhängnisvollen Einfluß auf Goethe bei
zunehmendem Alter geübt hatte. Denn Riemer maß Wilhelm auch die Haupt¬
schuld bei, wenn er zu seinem Schmerze in einigen ihm vou Hirzel mitge¬
teilten Briefen sehen mußte, daß Goethe "beständig auf die Deutschen hackt.""
Man spürt, daß auch die Fürsten der Wissenschaft gleich den Fürsten von
Geblüt verfloßner Zeiten eines Prügeljungen bedürfen, auf dessen Schultern
die Schläge niederregncn, die die Ehrfurcht verbietet, dem Prinzen zu erteilen,
der eigentlich gemeint ist. Welchen Einfluß hatte am letzten Ende ein Geist
wie Riemers über einen Geist wie Goethes haben können? Lenkt auch das
Buch über Goethe und die Brüder Grimm "unser Sinnen rückwärts in jene
große Zeit, der Goethe seinen Namen gab, in die Fülle des Lebens, die um
ihn wogte, und gehörten auch die Brüder Grimm zu den Seinigen," so soll
die Erinnerung an deu Goethischen spiriws t'ÄnMg.ri8 und Weimarischen


Goethe und die Brüder Grimm

an den Arbeiten der gelehrten Brüder Anteil nehmen und urteilen konnte,
kann uns heute nur die Zuversicht in Erstaunen setzen, mit der Goethes Teil¬
nahme erwartet und in gewissem Sinne gefordert wurde. So wenig kannte
jenes Geschlecht die siebenfachen Mauern der „Spezialität," so magnetisch
wirkten die gewaltige Natur, die außerordentliche Aufnahmekraft und die Uni¬
versalitnt Goethes auf die Menschen seiner Tage, daß man alles in seinem
Geiste gespiegelt, in seiner Welt lebendig gestaltet wünschte, daß man selbst
die Schranken, die anch diesem Größten gesetzt waren, immer lieber auf fremde
Einwirkungen als auf ein Nichtwollen oder Nichttonnen in Goethe selbst
zurückführte.

Die Brüder Grimm, die auch nach Goethes Heimgang fortfuhren, sich
in der Liebe zum Dichter zu stärken, in ihren großen grammatischen und
lexikographischen Arbeiten die sprachschöpferische Bedeutung Goethes ins hellste
Licht zu rücke» und dankbar zu verehren, scheinen sich in der Abneigung gegen
F. W. Riemer mit jeder Verstimmung abgefunden zu haben. Wenigstens
berichtet Steig, daß sie der werdenden Gvethelitteratur aufmerksam folgten.
„Keine dieser Publikationen entging deu Brüdern. Riemers Mitteilungen über
Goethe (1841) waren ihnen persönlich wohl am widerwärtigsten. Nicht mir
daß er gegen Bettinens Briefwechsel (!) und ihre öffentlichen Lobredner seine
hämische Bosheit richtete, auch die Grimm suchte er unter halber Berufung auf
Goethe direkt zu treffen. Denn die Stelle gegen die »Neuern und Neusten,«
die, statt in die Gegenwart tüchtig einzugreifen, rückwärts strebten und das
Kehricht des alten Aberglaubens, der Volkssagen, Märchen und Gespenster¬
geschichten wieder aufwühlten, um durch den erregten Staub und Dunst eine
künstliche Dämmerung zu verbreiten — diese Stelle (I. 193) war deutlich
genug auf die Brüder Grimm berechnet, wie sie selber richtig empfanden. Ihre
instinktive Abneigung gegen Riemer (von der schon in den ersten Anfängen
des Buches die Rede ist) zeigte sich jetzt leider zu gut begründet. Dies war
der Mann, der im einzelnen einen verhängnisvollen Einfluß auf Goethe bei
zunehmendem Alter geübt hatte. Denn Riemer maß Wilhelm auch die Haupt¬
schuld bei, wenn er zu seinem Schmerze in einigen ihm vou Hirzel mitge¬
teilten Briefen sehen mußte, daß Goethe »beständig auf die Deutschen hackt.«"
Man spürt, daß auch die Fürsten der Wissenschaft gleich den Fürsten von
Geblüt verfloßner Zeiten eines Prügeljungen bedürfen, auf dessen Schultern
die Schläge niederregncn, die die Ehrfurcht verbietet, dem Prinzen zu erteilen,
der eigentlich gemeint ist. Welchen Einfluß hatte am letzten Ende ein Geist
wie Riemers über einen Geist wie Goethes haben können? Lenkt auch das
Buch über Goethe und die Brüder Grimm „unser Sinnen rückwärts in jene
große Zeit, der Goethe seinen Namen gab, in die Fülle des Lebens, die um
ihn wogte, und gehörten auch die Brüder Grimm zu den Seinigen," so soll
die Erinnerung an deu Goethischen spiriws t'ÄnMg.ri8 und Weimarischen


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[0372] Goethe und die Brüder Grimm an den Arbeiten der gelehrten Brüder Anteil nehmen und urteilen konnte, kann uns heute nur die Zuversicht in Erstaunen setzen, mit der Goethes Teil¬ nahme erwartet und in gewissem Sinne gefordert wurde. So wenig kannte jenes Geschlecht die siebenfachen Mauern der „Spezialität," so magnetisch wirkten die gewaltige Natur, die außerordentliche Aufnahmekraft und die Uni¬ versalitnt Goethes auf die Menschen seiner Tage, daß man alles in seinem Geiste gespiegelt, in seiner Welt lebendig gestaltet wünschte, daß man selbst die Schranken, die anch diesem Größten gesetzt waren, immer lieber auf fremde Einwirkungen als auf ein Nichtwollen oder Nichttonnen in Goethe selbst zurückführte. Die Brüder Grimm, die auch nach Goethes Heimgang fortfuhren, sich in der Liebe zum Dichter zu stärken, in ihren großen grammatischen und lexikographischen Arbeiten die sprachschöpferische Bedeutung Goethes ins hellste Licht zu rücke» und dankbar zu verehren, scheinen sich in der Abneigung gegen F. W. Riemer mit jeder Verstimmung abgefunden zu haben. Wenigstens berichtet Steig, daß sie der werdenden Gvethelitteratur aufmerksam folgten. „Keine dieser Publikationen entging deu Brüdern. Riemers Mitteilungen über Goethe (1841) waren ihnen persönlich wohl am widerwärtigsten. Nicht mir daß er gegen Bettinens Briefwechsel (!) und ihre öffentlichen Lobredner seine hämische Bosheit richtete, auch die Grimm suchte er unter halber Berufung auf Goethe direkt zu treffen. Denn die Stelle gegen die »Neuern und Neusten,« die, statt in die Gegenwart tüchtig einzugreifen, rückwärts strebten und das Kehricht des alten Aberglaubens, der Volkssagen, Märchen und Gespenster¬ geschichten wieder aufwühlten, um durch den erregten Staub und Dunst eine künstliche Dämmerung zu verbreiten — diese Stelle (I. 193) war deutlich genug auf die Brüder Grimm berechnet, wie sie selber richtig empfanden. Ihre instinktive Abneigung gegen Riemer (von der schon in den ersten Anfängen des Buches die Rede ist) zeigte sich jetzt leider zu gut begründet. Dies war der Mann, der im einzelnen einen verhängnisvollen Einfluß auf Goethe bei zunehmendem Alter geübt hatte. Denn Riemer maß Wilhelm auch die Haupt¬ schuld bei, wenn er zu seinem Schmerze in einigen ihm vou Hirzel mitge¬ teilten Briefen sehen mußte, daß Goethe »beständig auf die Deutschen hackt.«" Man spürt, daß auch die Fürsten der Wissenschaft gleich den Fürsten von Geblüt verfloßner Zeiten eines Prügeljungen bedürfen, auf dessen Schultern die Schläge niederregncn, die die Ehrfurcht verbietet, dem Prinzen zu erteilen, der eigentlich gemeint ist. Welchen Einfluß hatte am letzten Ende ein Geist wie Riemers über einen Geist wie Goethes haben können? Lenkt auch das Buch über Goethe und die Brüder Grimm „unser Sinnen rückwärts in jene große Zeit, der Goethe seinen Namen gab, in die Fülle des Lebens, die um ihn wogte, und gehörten auch die Brüder Grimm zu den Seinigen," so soll die Erinnerung an deu Goethischen spiriws t'ÄnMg.ri8 und Weimarischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/372>, abgerufen am 25.08.2024.