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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Hamburg und die Cholera

die Choleraepidemie grell beleuchtet hat: unsre Wohnungsverhültnisse. Auch
hier wollen wir nicht mit unsrer aufrichtigen Überzeugung zurückhalten, daß
diese Verhältnisse in der That einer Änderung dringend bedürftig, teilweise
sogar ganz unleidlich sind. Aber eins wollen wir doch denen, die in diesem
Punkte über uns besonders laute Klage führen, entgegenhalten: sind die
Wohnungsverhültnisse in gesundheitlicher Beziehung in andern europäischen
und insbesondre deutschen Großstädten wirklich so unverhältnismäßig viel
besser? Klagt man nicht anch dort über die mit dem riesigen Steigen der
Grundrente zusammenhängende Verteuerung der Wohnungen? und hat nicht
auch dort diese Verteuerung bei der unbemittelten Bevölkerung zu einem Zu¬
sammendrängen zahlreicher Menschen auf viel zu kleine Räume, zu dem After¬
miete- und Schlüferwesen, den Mißständen der Mietkasernen, also gerade zu
den Übelständen geführt, die in Hamburg namentlich eine so gewaltige Aus¬
breitung der Seuche bewirkt zu haben scheinen? Es mag zugegeben werden,
daß einiges in dieser Beziehung durch schärfere baupolizeiliche Bestimmungen
gebessert werden könnte. Allein man überschätze die Bedeutung derartiger Be¬
stimmungen nicht! Erstens können die polizeilichen Vorschriften in Bezug auf
die an die Häuser und einzelnen Wohnungen zu stellenden Anforderungen nur
bis zu einem gewissen Grade verschärft werden, weil mit einer zu weitgehenden
Verschärfung auch der Mietpreis wieder steigt und damit die beabsichtigte
Wirkuug wieder aufgehoben wird; zweitens haben gerade die Erscheinungen
der Cholera in Hamburg ergeben, daß die Gesundheitsverhnltnisse in den be¬
rüchtigten Höfen und Gängen des sogenannten Gängevicrtels nicht schlechter
waren als in den neuen, unter der Herrschaft strengerer banpolizeilicher Vor¬
schriften entstandnen Arbeitervierteln im Hammerbrook, in Barmbeck u. s. w.
Als der entscheidende Übelstand ist in allen Stadtteilen die Verteueruug der
Arbeiterwohnungen und das hierdurch verursachte Zusammenleben zu vieler
Meuschen auf kleinem Raume empfunden worden, und dieser Übelstand
wird in seinen wesentlichen Wirkungen nicht eher beseitigt werden könne",
als bis das Mittel entdeckt ist, dem Arbeiterstande billige, seinen Einkommcns-
verhältnissen entsprechende Wohnungen zu schaffen, d. h. bis eine Frage
gelöst worden ist, die in allen deutschen Großstädten zur Zeit noch ihrer
Lösung harrt.

Dennoch erkennen wir es offen an, daß wir im einzelnen hier gar
manches versäumt haben, und daß unsre Zustände schlechter sind, als sie sein
sollten, anch schlechter vielleicht, als dies in andern Städten unter der Herr¬
schaft strengerer Baupolizeigesetze der Fall ist. Aber auch hier muß man sich
besser nach dem Grunde dieser Erscheinung umsehen, als es bisher geschehen
ist, wo man nicht Worte genug finden konnte, die unerhörte, nur aus ver¬
alteten Einrichtungen erklärliche Nachlässigkeit unsrer Baupolizei zu rügen.
Man wird dann erkennen, daß die Schuld nicht an unserm ganzen Staats-


Hamburg und die Cholera

die Choleraepidemie grell beleuchtet hat: unsre Wohnungsverhültnisse. Auch
hier wollen wir nicht mit unsrer aufrichtigen Überzeugung zurückhalten, daß
diese Verhältnisse in der That einer Änderung dringend bedürftig, teilweise
sogar ganz unleidlich sind. Aber eins wollen wir doch denen, die in diesem
Punkte über uns besonders laute Klage führen, entgegenhalten: sind die
Wohnungsverhültnisse in gesundheitlicher Beziehung in andern europäischen
und insbesondre deutschen Großstädten wirklich so unverhältnismäßig viel
besser? Klagt man nicht anch dort über die mit dem riesigen Steigen der
Grundrente zusammenhängende Verteuerung der Wohnungen? und hat nicht
auch dort diese Verteuerung bei der unbemittelten Bevölkerung zu einem Zu¬
sammendrängen zahlreicher Menschen auf viel zu kleine Räume, zu dem After¬
miete- und Schlüferwesen, den Mißständen der Mietkasernen, also gerade zu
den Übelständen geführt, die in Hamburg namentlich eine so gewaltige Aus¬
breitung der Seuche bewirkt zu haben scheinen? Es mag zugegeben werden,
daß einiges in dieser Beziehung durch schärfere baupolizeiliche Bestimmungen
gebessert werden könnte. Allein man überschätze die Bedeutung derartiger Be¬
stimmungen nicht! Erstens können die polizeilichen Vorschriften in Bezug auf
die an die Häuser und einzelnen Wohnungen zu stellenden Anforderungen nur
bis zu einem gewissen Grade verschärft werden, weil mit einer zu weitgehenden
Verschärfung auch der Mietpreis wieder steigt und damit die beabsichtigte
Wirkuug wieder aufgehoben wird; zweitens haben gerade die Erscheinungen
der Cholera in Hamburg ergeben, daß die Gesundheitsverhnltnisse in den be¬
rüchtigten Höfen und Gängen des sogenannten Gängevicrtels nicht schlechter
waren als in den neuen, unter der Herrschaft strengerer banpolizeilicher Vor¬
schriften entstandnen Arbeitervierteln im Hammerbrook, in Barmbeck u. s. w.
Als der entscheidende Übelstand ist in allen Stadtteilen die Verteueruug der
Arbeiterwohnungen und das hierdurch verursachte Zusammenleben zu vieler
Meuschen auf kleinem Raume empfunden worden, und dieser Übelstand
wird in seinen wesentlichen Wirkungen nicht eher beseitigt werden könne»,
als bis das Mittel entdeckt ist, dem Arbeiterstande billige, seinen Einkommcns-
verhältnissen entsprechende Wohnungen zu schaffen, d. h. bis eine Frage
gelöst worden ist, die in allen deutschen Großstädten zur Zeit noch ihrer
Lösung harrt.

Dennoch erkennen wir es offen an, daß wir im einzelnen hier gar
manches versäumt haben, und daß unsre Zustände schlechter sind, als sie sein
sollten, anch schlechter vielleicht, als dies in andern Städten unter der Herr¬
schaft strengerer Baupolizeigesetze der Fall ist. Aber auch hier muß man sich
besser nach dem Grunde dieser Erscheinung umsehen, als es bisher geschehen
ist, wo man nicht Worte genug finden konnte, die unerhörte, nur aus ver¬
alteten Einrichtungen erklärliche Nachlässigkeit unsrer Baupolizei zu rügen.
Man wird dann erkennen, daß die Schuld nicht an unserm ganzen Staats-


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[0366] Hamburg und die Cholera die Choleraepidemie grell beleuchtet hat: unsre Wohnungsverhültnisse. Auch hier wollen wir nicht mit unsrer aufrichtigen Überzeugung zurückhalten, daß diese Verhältnisse in der That einer Änderung dringend bedürftig, teilweise sogar ganz unleidlich sind. Aber eins wollen wir doch denen, die in diesem Punkte über uns besonders laute Klage führen, entgegenhalten: sind die Wohnungsverhültnisse in gesundheitlicher Beziehung in andern europäischen und insbesondre deutschen Großstädten wirklich so unverhältnismäßig viel besser? Klagt man nicht anch dort über die mit dem riesigen Steigen der Grundrente zusammenhängende Verteuerung der Wohnungen? und hat nicht auch dort diese Verteuerung bei der unbemittelten Bevölkerung zu einem Zu¬ sammendrängen zahlreicher Menschen auf viel zu kleine Räume, zu dem After¬ miete- und Schlüferwesen, den Mißständen der Mietkasernen, also gerade zu den Übelständen geführt, die in Hamburg namentlich eine so gewaltige Aus¬ breitung der Seuche bewirkt zu haben scheinen? Es mag zugegeben werden, daß einiges in dieser Beziehung durch schärfere baupolizeiliche Bestimmungen gebessert werden könnte. Allein man überschätze die Bedeutung derartiger Be¬ stimmungen nicht! Erstens können die polizeilichen Vorschriften in Bezug auf die an die Häuser und einzelnen Wohnungen zu stellenden Anforderungen nur bis zu einem gewissen Grade verschärft werden, weil mit einer zu weitgehenden Verschärfung auch der Mietpreis wieder steigt und damit die beabsichtigte Wirkuug wieder aufgehoben wird; zweitens haben gerade die Erscheinungen der Cholera in Hamburg ergeben, daß die Gesundheitsverhnltnisse in den be¬ rüchtigten Höfen und Gängen des sogenannten Gängevicrtels nicht schlechter waren als in den neuen, unter der Herrschaft strengerer banpolizeilicher Vor¬ schriften entstandnen Arbeitervierteln im Hammerbrook, in Barmbeck u. s. w. Als der entscheidende Übelstand ist in allen Stadtteilen die Verteueruug der Arbeiterwohnungen und das hierdurch verursachte Zusammenleben zu vieler Meuschen auf kleinem Raume empfunden worden, und dieser Übelstand wird in seinen wesentlichen Wirkungen nicht eher beseitigt werden könne», als bis das Mittel entdeckt ist, dem Arbeiterstande billige, seinen Einkommcns- verhältnissen entsprechende Wohnungen zu schaffen, d. h. bis eine Frage gelöst worden ist, die in allen deutschen Großstädten zur Zeit noch ihrer Lösung harrt. Dennoch erkennen wir es offen an, daß wir im einzelnen hier gar manches versäumt haben, und daß unsre Zustände schlechter sind, als sie sein sollten, anch schlechter vielleicht, als dies in andern Städten unter der Herr¬ schaft strengerer Baupolizeigesetze der Fall ist. Aber auch hier muß man sich besser nach dem Grunde dieser Erscheinung umsehen, als es bisher geschehen ist, wo man nicht Worte genug finden konnte, die unerhörte, nur aus ver¬ alteten Einrichtungen erklärliche Nachlässigkeit unsrer Baupolizei zu rügen. Man wird dann erkennen, daß die Schuld nicht an unserm ganzen Staats-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/366>, abgerufen am 22.12.2024.