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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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sein muß: das Wiederkäuen." An systematischem Aufbau fehlt es bei ihm im
ganzen eben so, wie in den Einzelansführnngen. Wer von einem System
Nietzsches spricht, verkennt sein Werk ganz. "Ich mißtraue allen Systematikern,
sagt er, und gehe ihnen aus dem Wege. Der Wille zum System ist ein Mangel
an Rechtschaffenheit." Es macht aber den Eindruck, als ob er nicht nur den
Systematikern, sondern auch sich selbst mißtraut hätte, so bunt ist der Wechsel
der Anschauungen und die Zahl der Gegensätze bei ihm. Wie zur eignen Ent¬
schuldigung warnt er vor den Männern des starren Prinzips, denen es an
Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit fehle, weil die Treue gegen das Prinzip sie
verleite, ihr Unchrlichsein gegen sich selber für Charakter auszugeben.

Die Schwierigkeiten des Verständnisses werden noch vermehrt durch die
fast ausschließliche Verwendung des Aphorismus in diesen spätern Schriften.
Wie ein trotziger Felsen legt sich der Gedanke in den Weg, bald in zwei bis
drei Zeilen, bald in ein oder zwei Seiten gefaßt, ohne Verbindung mit dem
übrigen Erdreich, in sich abgeschlossen, nicht vom Vorgänger gehalten, ohne
Stütze für den Nachfolger. "Ein Aphorismus, fagt er, rechtschaffen geprägt
und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht entziffert. Viel¬
mehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der
Auslegung bedarf."

Andrerseits versteht es Nietzsche, seinen Gedanken einen "Hochdruck" zu
geben, der ihnen oft ein ausdrucksvolles Gesicht verleiht, sodaß sie ver¬
ständlich und behaltbar werden. Dennoch muß man sich auf die Kunst des
Kvmbinirens und Erratens verstehen, um seinen Gedanken auf den Grund zu
kommen. Dabei läuft mau natürlich Gefahr, ihn mißzuverstehen. Aber ein¬
zelne Gedanken, auf die er in den verschiedenartigsten Wendungen zurückkommt,
treten doch deutlich greifbar aus dem Ganzen heraus. Sie sollen denn auch,
da es sich hier nicht darum handeln kann, den ganzen Reichtum seiner Ideen*)
nnfzuweisen, im folgenden als die Richtpunkte dienen, die vielleicht bei einigem
Bemühen den Weg in die eigentümliche Gedankenwelt des Denkers eröffnen
werden.

Nietzsches große Kraft hat sich an die ernstesten und gewaltigsten Pro¬
bleme des Lebens gewagt. Es geht ein titanenhafter Zug durch sein Denken;



Sie sind von ihm in folgenden Schriften niedergelegt worden: 1. Periode: Die
Geburt der Tragödie ans dem Geiste der Musik, 1872. Unzeitgemäße Be¬
trachtungen. (1. David Strauß, der Nckcuner und der Schriftsteller- 2. Vom Nutzen und
Nachteil der Historie; 3. Schopenhauer als Erzieher; 4. R. Wagner in Bayreuth), 1876 ff.
2. Periode: Menschliches, Allzumenschliches. (2 Bde., mit dem Schlußstück: Der
Wandrer und sein Schatten), 1878 ff.; Morgenröthe, 1331; Die fröhliche Wissen¬
schaft (mit den Liedern des Prinzen Vogelfrei), 1882; Also sprach Zarathustra,
ein Buch für alle und keinen. (In 4 Teilen), 1883, 1890; Jenseits von Gut und Böse,
1886; Zur Genealogie der Moral, 1887; Der Fall Wagner, 1888; Götzen¬
dämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, 1889.

sein muß: das Wiederkäuen." An systematischem Aufbau fehlt es bei ihm im
ganzen eben so, wie in den Einzelansführnngen. Wer von einem System
Nietzsches spricht, verkennt sein Werk ganz. „Ich mißtraue allen Systematikern,
sagt er, und gehe ihnen aus dem Wege. Der Wille zum System ist ein Mangel
an Rechtschaffenheit." Es macht aber den Eindruck, als ob er nicht nur den
Systematikern, sondern auch sich selbst mißtraut hätte, so bunt ist der Wechsel
der Anschauungen und die Zahl der Gegensätze bei ihm. Wie zur eignen Ent¬
schuldigung warnt er vor den Männern des starren Prinzips, denen es an
Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit fehle, weil die Treue gegen das Prinzip sie
verleite, ihr Unchrlichsein gegen sich selber für Charakter auszugeben.

Die Schwierigkeiten des Verständnisses werden noch vermehrt durch die
fast ausschließliche Verwendung des Aphorismus in diesen spätern Schriften.
Wie ein trotziger Felsen legt sich der Gedanke in den Weg, bald in zwei bis
drei Zeilen, bald in ein oder zwei Seiten gefaßt, ohne Verbindung mit dem
übrigen Erdreich, in sich abgeschlossen, nicht vom Vorgänger gehalten, ohne
Stütze für den Nachfolger. „Ein Aphorismus, fagt er, rechtschaffen geprägt
und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht entziffert. Viel¬
mehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der
Auslegung bedarf."

Andrerseits versteht es Nietzsche, seinen Gedanken einen „Hochdruck" zu
geben, der ihnen oft ein ausdrucksvolles Gesicht verleiht, sodaß sie ver¬
ständlich und behaltbar werden. Dennoch muß man sich auf die Kunst des
Kvmbinirens und Erratens verstehen, um seinen Gedanken auf den Grund zu
kommen. Dabei läuft mau natürlich Gefahr, ihn mißzuverstehen. Aber ein¬
zelne Gedanken, auf die er in den verschiedenartigsten Wendungen zurückkommt,
treten doch deutlich greifbar aus dem Ganzen heraus. Sie sollen denn auch,
da es sich hier nicht darum handeln kann, den ganzen Reichtum seiner Ideen*)
nnfzuweisen, im folgenden als die Richtpunkte dienen, die vielleicht bei einigem
Bemühen den Weg in die eigentümliche Gedankenwelt des Denkers eröffnen
werden.

Nietzsches große Kraft hat sich an die ernstesten und gewaltigsten Pro¬
bleme des Lebens gewagt. Es geht ein titanenhafter Zug durch sein Denken;



Sie sind von ihm in folgenden Schriften niedergelegt worden: 1. Periode: Die
Geburt der Tragödie ans dem Geiste der Musik, 1872. Unzeitgemäße Be¬
trachtungen. (1. David Strauß, der Nckcuner und der Schriftsteller- 2. Vom Nutzen und
Nachteil der Historie; 3. Schopenhauer als Erzieher; 4. R. Wagner in Bayreuth), 1876 ff.
2. Periode: Menschliches, Allzumenschliches. (2 Bde., mit dem Schlußstück: Der
Wandrer und sein Schatten), 1878 ff.; Morgenröthe, 1331; Die fröhliche Wissen¬
schaft (mit den Liedern des Prinzen Vogelfrei), 1882; Also sprach Zarathustra,
ein Buch für alle und keinen. (In 4 Teilen), 1883, 1890; Jenseits von Gut und Böse,
1886; Zur Genealogie der Moral, 1887; Der Fall Wagner, 1888; Götzen¬
dämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, 1889.
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[0036] sein muß: das Wiederkäuen." An systematischem Aufbau fehlt es bei ihm im ganzen eben so, wie in den Einzelansführnngen. Wer von einem System Nietzsches spricht, verkennt sein Werk ganz. „Ich mißtraue allen Systematikern, sagt er, und gehe ihnen aus dem Wege. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Es macht aber den Eindruck, als ob er nicht nur den Systematikern, sondern auch sich selbst mißtraut hätte, so bunt ist der Wechsel der Anschauungen und die Zahl der Gegensätze bei ihm. Wie zur eignen Ent¬ schuldigung warnt er vor den Männern des starren Prinzips, denen es an Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit fehle, weil die Treue gegen das Prinzip sie verleite, ihr Unchrlichsein gegen sich selber für Charakter auszugeben. Die Schwierigkeiten des Verständnisses werden noch vermehrt durch die fast ausschließliche Verwendung des Aphorismus in diesen spätern Schriften. Wie ein trotziger Felsen legt sich der Gedanke in den Weg, bald in zwei bis drei Zeilen, bald in ein oder zwei Seiten gefaßt, ohne Verbindung mit dem übrigen Erdreich, in sich abgeschlossen, nicht vom Vorgänger gehalten, ohne Stütze für den Nachfolger. „Ein Aphorismus, fagt er, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht entziffert. Viel¬ mehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf." Andrerseits versteht es Nietzsche, seinen Gedanken einen „Hochdruck" zu geben, der ihnen oft ein ausdrucksvolles Gesicht verleiht, sodaß sie ver¬ ständlich und behaltbar werden. Dennoch muß man sich auf die Kunst des Kvmbinirens und Erratens verstehen, um seinen Gedanken auf den Grund zu kommen. Dabei läuft mau natürlich Gefahr, ihn mißzuverstehen. Aber ein¬ zelne Gedanken, auf die er in den verschiedenartigsten Wendungen zurückkommt, treten doch deutlich greifbar aus dem Ganzen heraus. Sie sollen denn auch, da es sich hier nicht darum handeln kann, den ganzen Reichtum seiner Ideen*) nnfzuweisen, im folgenden als die Richtpunkte dienen, die vielleicht bei einigem Bemühen den Weg in die eigentümliche Gedankenwelt des Denkers eröffnen werden. Nietzsches große Kraft hat sich an die ernstesten und gewaltigsten Pro¬ bleme des Lebens gewagt. Es geht ein titanenhafter Zug durch sein Denken; Sie sind von ihm in folgenden Schriften niedergelegt worden: 1. Periode: Die Geburt der Tragödie ans dem Geiste der Musik, 1872. Unzeitgemäße Be¬ trachtungen. (1. David Strauß, der Nckcuner und der Schriftsteller- 2. Vom Nutzen und Nachteil der Historie; 3. Schopenhauer als Erzieher; 4. R. Wagner in Bayreuth), 1876 ff. 2. Periode: Menschliches, Allzumenschliches. (2 Bde., mit dem Schlußstück: Der Wandrer und sein Schatten), 1878 ff.; Morgenröthe, 1331; Die fröhliche Wissen¬ schaft (mit den Liedern des Prinzen Vogelfrei), 1882; Also sprach Zarathustra, ein Buch für alle und keinen. (In 4 Teilen), 1883, 1890; Jenseits von Gut und Böse, 1886; Zur Genealogie der Moral, 1887; Der Fall Wagner, 1888; Götzen¬ dämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, 1889.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/36>, abgerufen am 23.07.2024.