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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Lin Wort über unsre höhern lliädchenschulen

gegangen. Dieser Lehrplan hat den großen Vorzug vor dein unsrigen, daß
er auf den beiden obern Klaffen, also bei Mädchen von vierzehn bis sechzehn
Jahren, eine Teilung der Lehrfächer in obligatorische und fakultative eintreten
läßt. Ob die Verteilung der Fächer auf diese Gruppen selbst geschickt ist, soll
hier nicht untersucht werden. Jedenfalls aber würde sich diese Einrichtung
auch für uns sehr eignen und mit einem Schlage viele Klagen zum Schweigen
bringen.

Jeder Direktor einer deutschen Mädchenschule weiß ein Lied davon zu
singen, welche Mißstände die Verbindlichkeit fast sämtlicher Lehrfächer ans den
obern Klassen zur Folge hat. Das Mädchen ist überbürdet; es wird bleich¬
süchtig; von den Fächern, für die sämtlich Interesse verlangt wird, interessirt
sie keins mehr. Nun kommen die Eltern mit dem berechtigten Wunsche, ihre
Tochter von mehrern Gegenständen dispenstrt zu sehen. Der Direktor kann
diesem Wunsche nur willfahren, wenn ihm ein ärztliches Zeugnis vorgelegt
wird. Dieses Zeugnis wird natürlich beschafft. So ist der Lehrgang unter¬
brochen ; was die Schülerin in einem Gegenstände gelernt hat, bleibt stofflich
unabgeschlossen, Bruchstück und geht alsbald ganz verloren. Wäre die Kraft
rechtzeitig geschont worden, wäre statt der Vielheit der Gegenstände rechtzeitig
eine Beschränkung auf wenige, aber gründlicher zu betreibende eingetreten, so
wäre der geistige wie der sittliche Gewinn eines festen, abgeschloßnen schul¬
mäßigen Betriebes gewahrt worden.

Wie die Teilung der Fächer vorzunehmen wäre, wollen wir einer fach¬
männischem Beratung überlassen. Die Meinungen werde" weit auseinander
gehen. Jedenfalls müßte der Grundstock der durchaus obligatorischen Fächer
umfassen: Deutsch, Geschichte und eine fremde Sprache. Die Teilung müßte
in dem Augenblick beginnen, wo das für die Volksschule vorgeschriebne, für die
"allgemeine Bildung" nun einmal unerläßliche Maß von Elementarkenntnissen
in allen Fächern erreicht wäre. Man kann bei einer höher" Mädchenschule
diesen Augenblick aus leicht ersichtlichen Gründen früher ansetzen als bei der
Volksschule; ich sollte meinen, spätestens mit dein vollendeten siebenten Schul¬
jahre. Es bliebe dann die Verbindlichkeit für die Fächer von nationaler
Bedeutung, über deren Notwendigkeit bis in die spätesten Schuljahre schlechter¬
dings nur eine Meinung bestehen kann, und für die eine der auf frühern
Stufen begonnenen fremden Sprachen. Aus den andern Fächern mögen Eltern
und Schülerinnen (die in diesem Alter schon ein ganz deutliches Gefühl haben
für das, was für sie paßt) nach freiem Belieben wählen.

Die Einführung dieser Teilung würde eine vollständige Abkehr von dem
Vorbilde der Knabenschulen bedeuten. Daß sie manchem Schulmeisterherzen
als ein Verbrechen erscheinen wird, ist sicher, aber gleichgiltig. Der Gewinn
wird zuverlässig groß sein: unsre Mädchen werden entlastet werden, und statt
des vielen, das sie jetzt in einen Zustand versetzt, als ginge ihnen ein Musk-


Lin Wort über unsre höhern lliädchenschulen

gegangen. Dieser Lehrplan hat den großen Vorzug vor dein unsrigen, daß
er auf den beiden obern Klaffen, also bei Mädchen von vierzehn bis sechzehn
Jahren, eine Teilung der Lehrfächer in obligatorische und fakultative eintreten
läßt. Ob die Verteilung der Fächer auf diese Gruppen selbst geschickt ist, soll
hier nicht untersucht werden. Jedenfalls aber würde sich diese Einrichtung
auch für uns sehr eignen und mit einem Schlage viele Klagen zum Schweigen
bringen.

Jeder Direktor einer deutschen Mädchenschule weiß ein Lied davon zu
singen, welche Mißstände die Verbindlichkeit fast sämtlicher Lehrfächer ans den
obern Klassen zur Folge hat. Das Mädchen ist überbürdet; es wird bleich¬
süchtig; von den Fächern, für die sämtlich Interesse verlangt wird, interessirt
sie keins mehr. Nun kommen die Eltern mit dem berechtigten Wunsche, ihre
Tochter von mehrern Gegenständen dispenstrt zu sehen. Der Direktor kann
diesem Wunsche nur willfahren, wenn ihm ein ärztliches Zeugnis vorgelegt
wird. Dieses Zeugnis wird natürlich beschafft. So ist der Lehrgang unter¬
brochen ; was die Schülerin in einem Gegenstände gelernt hat, bleibt stofflich
unabgeschlossen, Bruchstück und geht alsbald ganz verloren. Wäre die Kraft
rechtzeitig geschont worden, wäre statt der Vielheit der Gegenstände rechtzeitig
eine Beschränkung auf wenige, aber gründlicher zu betreibende eingetreten, so
wäre der geistige wie der sittliche Gewinn eines festen, abgeschloßnen schul¬
mäßigen Betriebes gewahrt worden.

Wie die Teilung der Fächer vorzunehmen wäre, wollen wir einer fach¬
männischem Beratung überlassen. Die Meinungen werde» weit auseinander
gehen. Jedenfalls müßte der Grundstock der durchaus obligatorischen Fächer
umfassen: Deutsch, Geschichte und eine fremde Sprache. Die Teilung müßte
in dem Augenblick beginnen, wo das für die Volksschule vorgeschriebne, für die
„allgemeine Bildung" nun einmal unerläßliche Maß von Elementarkenntnissen
in allen Fächern erreicht wäre. Man kann bei einer höher» Mädchenschule
diesen Augenblick aus leicht ersichtlichen Gründen früher ansetzen als bei der
Volksschule; ich sollte meinen, spätestens mit dein vollendeten siebenten Schul¬
jahre. Es bliebe dann die Verbindlichkeit für die Fächer von nationaler
Bedeutung, über deren Notwendigkeit bis in die spätesten Schuljahre schlechter¬
dings nur eine Meinung bestehen kann, und für die eine der auf frühern
Stufen begonnenen fremden Sprachen. Aus den andern Fächern mögen Eltern
und Schülerinnen (die in diesem Alter schon ein ganz deutliches Gefühl haben
für das, was für sie paßt) nach freiem Belieben wählen.

Die Einführung dieser Teilung würde eine vollständige Abkehr von dem
Vorbilde der Knabenschulen bedeuten. Daß sie manchem Schulmeisterherzen
als ein Verbrechen erscheinen wird, ist sicher, aber gleichgiltig. Der Gewinn
wird zuverlässig groß sein: unsre Mädchen werden entlastet werden, und statt
des vielen, das sie jetzt in einen Zustand versetzt, als ginge ihnen ein Musk-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/323>, abgerufen am 22.12.2024.