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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Das Normale

Mein Haar hatte unter dem Cylinder Spielraum, sich zu sträuben. Ein
Spuk, ein Mirakel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in einer bis zur
Leichenverbrennung aufgeklärten Großstadt, am hellen Nachmittage?

Aber ich faßte bald Mut. Was konnte mir denn geschehen? Daß einem
am lichten Tage von Gespenstern der Hals umgedreht werden könnte, ist bis¬
her nicht allein unbewiesen, sondern auch von den überzeugtesteu Spiritisten
noch gar nicht einmal behauptet worden. Wohl warnten mich einige dunkle
Erinnerungen aus meiner märchenhaften Jugend vor dem handgreiflichen Zorne
der Geister, die, gleichviel ob von Natur gut oder böse, gerade mit neu¬
gierigen Erdenwürmern die allerunangenehmsten Dinge anstellen sollen. Aber
im Hinblick auf die wohlige Sicherheit, die ein reitender Schutzmann an der
nächsten Straßenecke ausstrahlte, wagte ich es; ich beschleunigte meine Schritte
und war bald an der Seite des Alten. Auf meinen Gruß neigte er, ohne
mich anzusehen, das Haupt und führte die Linke mit einer leichten, nur an¬
deutenden Bewegung nach der Brust. Es wehte mich kühl an, und zwar
wörtlich genommen. Ich hatte das Gefühl, als wenn ich mich in der Nähe
eines geöffneten Eisschranks befände. Mich fror. Trotzdem wich ich nicht
von der Seite des rätselhafte" Menschen, sondern machte vielmehr in drei
zur Not beherrschten fremden Sprachen den Versuch, "Nam und Art" von ihm
zu erkunden. Der Mann reagirte nicht, und es stieg bereits das peinliche
Gefühl eines gründlichen Abfalls in mir auf, als der Fremde, ohne den
Kopf zu erheben, in tiefen Durtönen, aber im schönsten Deutsch die Frage
an mich richtete: Bist du ein Zeitungsschreiber?

Der geschätzte Leser wird sich meine Überraschung ausmalen. Noch vor
wenigen Augenblicken Gegenstand meiner gewagtesten Kombinationen und phan¬
tastischsten Erwägungen, redet mich dieser würdige Greis nicht allein in meiner
geliebten Muttersprache, sondern sogar auf meinen Stand hin an. In wohl-
gesetzten Worten bat ich um Entschuldigung für die formlose Art, mit der ich
seine geschützte Bekanntschaft zu macheu gesucht hatte, und bat ihn, mir die
Absonderlichkeiten meines Äußern anzugeben, die ihn zu jener Frage be¬
rechtigten.

Dn bist ein muL-in nit^ weil dn dich um Dinge und um Menschen küm¬
merst, die dich im Grunde nichts angehen, antwortete der alte Herr.

Liebenswürdig war das nun eigentlich nicht; ich Hütte mir jedoch vorher
sage" können, daß diesem Wüstensohne Europens übertünchte Höflichkeit ein
allzu moderner Begriff sein müsse. Überdies war mir die Grobheit schon
lieber als die kühle Unzugänglichkeit von vorhin. Zu weitern Grübeleien
hatte ich keine Zeit, denn der Alte überraschte mich, wieder ganz unvermittelt,
mit der fast ironisch klingenden weitern Frage: Bist du ein Nvrmalzeitnngs-
schreiber?

Ein Nor --mal ^? Ritte, das verstehe ich nicht; wie meinen Sie das?


Das Normale

Mein Haar hatte unter dem Cylinder Spielraum, sich zu sträuben. Ein
Spuk, ein Mirakel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in einer bis zur
Leichenverbrennung aufgeklärten Großstadt, am hellen Nachmittage?

Aber ich faßte bald Mut. Was konnte mir denn geschehen? Daß einem
am lichten Tage von Gespenstern der Hals umgedreht werden könnte, ist bis¬
her nicht allein unbewiesen, sondern auch von den überzeugtesteu Spiritisten
noch gar nicht einmal behauptet worden. Wohl warnten mich einige dunkle
Erinnerungen aus meiner märchenhaften Jugend vor dem handgreiflichen Zorne
der Geister, die, gleichviel ob von Natur gut oder böse, gerade mit neu¬
gierigen Erdenwürmern die allerunangenehmsten Dinge anstellen sollen. Aber
im Hinblick auf die wohlige Sicherheit, die ein reitender Schutzmann an der
nächsten Straßenecke ausstrahlte, wagte ich es; ich beschleunigte meine Schritte
und war bald an der Seite des Alten. Auf meinen Gruß neigte er, ohne
mich anzusehen, das Haupt und führte die Linke mit einer leichten, nur an¬
deutenden Bewegung nach der Brust. Es wehte mich kühl an, und zwar
wörtlich genommen. Ich hatte das Gefühl, als wenn ich mich in der Nähe
eines geöffneten Eisschranks befände. Mich fror. Trotzdem wich ich nicht
von der Seite des rätselhafte» Menschen, sondern machte vielmehr in drei
zur Not beherrschten fremden Sprachen den Versuch, „Nam und Art" von ihm
zu erkunden. Der Mann reagirte nicht, und es stieg bereits das peinliche
Gefühl eines gründlichen Abfalls in mir auf, als der Fremde, ohne den
Kopf zu erheben, in tiefen Durtönen, aber im schönsten Deutsch die Frage
an mich richtete: Bist du ein Zeitungsschreiber?

Der geschätzte Leser wird sich meine Überraschung ausmalen. Noch vor
wenigen Augenblicken Gegenstand meiner gewagtesten Kombinationen und phan¬
tastischsten Erwägungen, redet mich dieser würdige Greis nicht allein in meiner
geliebten Muttersprache, sondern sogar auf meinen Stand hin an. In wohl-
gesetzten Worten bat ich um Entschuldigung für die formlose Art, mit der ich
seine geschützte Bekanntschaft zu macheu gesucht hatte, und bat ihn, mir die
Absonderlichkeiten meines Äußern anzugeben, die ihn zu jener Frage be¬
rechtigten.

Dn bist ein muL-in nit^ weil dn dich um Dinge und um Menschen küm¬
merst, die dich im Grunde nichts angehen, antwortete der alte Herr.

Liebenswürdig war das nun eigentlich nicht; ich Hütte mir jedoch vorher
sage» können, daß diesem Wüstensohne Europens übertünchte Höflichkeit ein
allzu moderner Begriff sein müsse. Überdies war mir die Grobheit schon
lieber als die kühle Unzugänglichkeit von vorhin. Zu weitern Grübeleien
hatte ich keine Zeit, denn der Alte überraschte mich, wieder ganz unvermittelt,
mit der fast ironisch klingenden weitern Frage: Bist du ein Nvrmalzeitnngs-
schreiber?

Ein Nor —mal ^? Ritte, das verstehe ich nicht; wie meinen Sie das?


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[0278] Das Normale Mein Haar hatte unter dem Cylinder Spielraum, sich zu sträuben. Ein Spuk, ein Mirakel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in einer bis zur Leichenverbrennung aufgeklärten Großstadt, am hellen Nachmittage? Aber ich faßte bald Mut. Was konnte mir denn geschehen? Daß einem am lichten Tage von Gespenstern der Hals umgedreht werden könnte, ist bis¬ her nicht allein unbewiesen, sondern auch von den überzeugtesteu Spiritisten noch gar nicht einmal behauptet worden. Wohl warnten mich einige dunkle Erinnerungen aus meiner märchenhaften Jugend vor dem handgreiflichen Zorne der Geister, die, gleichviel ob von Natur gut oder böse, gerade mit neu¬ gierigen Erdenwürmern die allerunangenehmsten Dinge anstellen sollen. Aber im Hinblick auf die wohlige Sicherheit, die ein reitender Schutzmann an der nächsten Straßenecke ausstrahlte, wagte ich es; ich beschleunigte meine Schritte und war bald an der Seite des Alten. Auf meinen Gruß neigte er, ohne mich anzusehen, das Haupt und führte die Linke mit einer leichten, nur an¬ deutenden Bewegung nach der Brust. Es wehte mich kühl an, und zwar wörtlich genommen. Ich hatte das Gefühl, als wenn ich mich in der Nähe eines geöffneten Eisschranks befände. Mich fror. Trotzdem wich ich nicht von der Seite des rätselhafte» Menschen, sondern machte vielmehr in drei zur Not beherrschten fremden Sprachen den Versuch, „Nam und Art" von ihm zu erkunden. Der Mann reagirte nicht, und es stieg bereits das peinliche Gefühl eines gründlichen Abfalls in mir auf, als der Fremde, ohne den Kopf zu erheben, in tiefen Durtönen, aber im schönsten Deutsch die Frage an mich richtete: Bist du ein Zeitungsschreiber? Der geschätzte Leser wird sich meine Überraschung ausmalen. Noch vor wenigen Augenblicken Gegenstand meiner gewagtesten Kombinationen und phan¬ tastischsten Erwägungen, redet mich dieser würdige Greis nicht allein in meiner geliebten Muttersprache, sondern sogar auf meinen Stand hin an. In wohl- gesetzten Worten bat ich um Entschuldigung für die formlose Art, mit der ich seine geschützte Bekanntschaft zu macheu gesucht hatte, und bat ihn, mir die Absonderlichkeiten meines Äußern anzugeben, die ihn zu jener Frage be¬ rechtigten. Dn bist ein muL-in nit^ weil dn dich um Dinge und um Menschen küm¬ merst, die dich im Grunde nichts angehen, antwortete der alte Herr. Liebenswürdig war das nun eigentlich nicht; ich Hütte mir jedoch vorher sage» können, daß diesem Wüstensohne Europens übertünchte Höflichkeit ein allzu moderner Begriff sein müsse. Überdies war mir die Grobheit schon lieber als die kühle Unzugänglichkeit von vorhin. Zu weitern Grübeleien hatte ich keine Zeit, denn der Alte überraschte mich, wieder ganz unvermittelt, mit der fast ironisch klingenden weitern Frage: Bist du ein Nvrmalzeitnngs- schreiber? Ein Nor —mal ^? Ritte, das verstehe ich nicht; wie meinen Sie das?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/278>, abgerufen am 22.12.2024.