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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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worden. Schon John Stuart Mill, der doch nichts weniger als ein Sozialist
war, hat eingesehn, wie thöricht es sei, daß z. B. der eine Arzt mehr Kunden
hat, als er mit Aufopferung der unentbehrlichsten Erholungszeit bedienen kann,
während dicht daneben zehn andre Ärzte hungern. Wäre es nicht verständig,
meint er, diese elf Männer zu einer Körperschaft in der Weise zu verbinden,
daß die zehn uuter der Leitung jenes ersten als seine Gehilfen thätig wären?
Besonders, fügt Gronlund hinzu, wenn dafür gesorgt wird, daß wirklich der
tüchtigste Arzt an die Spitze befördert wird, während der vielbeschäftigte Arzt
von heute oft genug nur der erfolgreichste Betrüger ist. Dasselbe Schauspiel
wiederholt sich in allen Verufsarten: die einen haben zu viel, die andern haben
zu wenig zu thun, und die meisten schaffen ohne Rücksicht darauf, ja ohne
Ahnung davon, ob ihr Arbeitserzeugnis ein Bedürfnis der Gesamtheit be¬
friedigt, und ob nicht sehr dringende Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.

Das heutige Lohnsystem ist nur uuter der Voraussetzung zu rechtfertigen,
daß es im Entwicklungsprozesse der Gesellschaft notwendig war, indem ihm
die Aufgabe zufiel, die alte feudale Ordnung zu brechen und die zukünftige
sozialistische vorzubereiten. An und für sich ist es schlechter als die Hörigkeit
des Mittelalters und die Sklaverei des Altertums, die beide dem Arbeiter
Existenzsicherheit gewährten und ihn in geringerm Maße ausbeuteten. Über¬
dies wird die gegenwärtige Periode des Individualismus schou durch die
herrschende Kritik und Verneinung und das gänzliche Fehlen eines beseelenden
Ideals als ein bloßer Übergangszustand gekennzeichnet, dessen Ende nahe be¬
vorsteht. Der mittelalterliche Zustand ist von den bisher erreichten Zuständen
der Menschheit der höchste und vollkommenste gewesen und am ehesten als die
Verwirklichung eines Gesellschaftsideals zu bezeichnen. Die mittelalterliche
Menschheit erfreute sich eines großen Schatzes von Gütern und Genüssen; sie
hatte Vermögen und Einkommen, aber kein Kapital im modernen Sinne des
Wortes. (Dasselbe hebt, nebenbei bemerkt, auch Knapp in seinem vortrefflichen >
Büchlein "Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit" hervor.) Diese
Ordnung hatte sich nun allerdings überlebt und mußte gesprengt werden.
Vorbereitet wurde diese Sprengung durch die Reformation, die den Indivi¬
dualismus zur Herrschaft brachte, durchgeführt durch die drei großen Revo¬
lutionen: die englische, die amerikanische und die französische. Genützt haben
diese Revolutionen aber nur dem Staude, der sie ins Werk gesetzt hatte: dem
dritten Stande, den Gemeinen, uuter welchem Namen sich das bürgerliche
Unternehmertum verbirgt, und ihr Ergebnis ist vor der Hand die Plutokratie,
die sich in Nordamerika vollständig durchgesetzt hat, während ihr in Europa
die Überreste des Mittelalters: Königtum, Adel und Klerus, noch Schranken
ziehn. In Amerika, das unterläßt Gronlund zu bemerken, hat der Kapitalis¬
mus bis vor kurzem doch auch noch eine Schranke zu überwinden gehabt, die
ja allerdings jetzt glücklich überwunden zu sein scheint: den Reichtum an noch


worden. Schon John Stuart Mill, der doch nichts weniger als ein Sozialist
war, hat eingesehn, wie thöricht es sei, daß z. B. der eine Arzt mehr Kunden
hat, als er mit Aufopferung der unentbehrlichsten Erholungszeit bedienen kann,
während dicht daneben zehn andre Ärzte hungern. Wäre es nicht verständig,
meint er, diese elf Männer zu einer Körperschaft in der Weise zu verbinden,
daß die zehn uuter der Leitung jenes ersten als seine Gehilfen thätig wären?
Besonders, fügt Gronlund hinzu, wenn dafür gesorgt wird, daß wirklich der
tüchtigste Arzt an die Spitze befördert wird, während der vielbeschäftigte Arzt
von heute oft genug nur der erfolgreichste Betrüger ist. Dasselbe Schauspiel
wiederholt sich in allen Verufsarten: die einen haben zu viel, die andern haben
zu wenig zu thun, und die meisten schaffen ohne Rücksicht darauf, ja ohne
Ahnung davon, ob ihr Arbeitserzeugnis ein Bedürfnis der Gesamtheit be¬
friedigt, und ob nicht sehr dringende Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.

Das heutige Lohnsystem ist nur uuter der Voraussetzung zu rechtfertigen,
daß es im Entwicklungsprozesse der Gesellschaft notwendig war, indem ihm
die Aufgabe zufiel, die alte feudale Ordnung zu brechen und die zukünftige
sozialistische vorzubereiten. An und für sich ist es schlechter als die Hörigkeit
des Mittelalters und die Sklaverei des Altertums, die beide dem Arbeiter
Existenzsicherheit gewährten und ihn in geringerm Maße ausbeuteten. Über¬
dies wird die gegenwärtige Periode des Individualismus schou durch die
herrschende Kritik und Verneinung und das gänzliche Fehlen eines beseelenden
Ideals als ein bloßer Übergangszustand gekennzeichnet, dessen Ende nahe be¬
vorsteht. Der mittelalterliche Zustand ist von den bisher erreichten Zuständen
der Menschheit der höchste und vollkommenste gewesen und am ehesten als die
Verwirklichung eines Gesellschaftsideals zu bezeichnen. Die mittelalterliche
Menschheit erfreute sich eines großen Schatzes von Gütern und Genüssen; sie
hatte Vermögen und Einkommen, aber kein Kapital im modernen Sinne des
Wortes. (Dasselbe hebt, nebenbei bemerkt, auch Knapp in seinem vortrefflichen >
Büchlein „Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit" hervor.) Diese
Ordnung hatte sich nun allerdings überlebt und mußte gesprengt werden.
Vorbereitet wurde diese Sprengung durch die Reformation, die den Indivi¬
dualismus zur Herrschaft brachte, durchgeführt durch die drei großen Revo¬
lutionen: die englische, die amerikanische und die französische. Genützt haben
diese Revolutionen aber nur dem Staude, der sie ins Werk gesetzt hatte: dem
dritten Stande, den Gemeinen, uuter welchem Namen sich das bürgerliche
Unternehmertum verbirgt, und ihr Ergebnis ist vor der Hand die Plutokratie,
die sich in Nordamerika vollständig durchgesetzt hat, während ihr in Europa
die Überreste des Mittelalters: Königtum, Adel und Klerus, noch Schranken
ziehn. In Amerika, das unterläßt Gronlund zu bemerken, hat der Kapitalis¬
mus bis vor kurzem doch auch noch eine Schranke zu überwinden gehabt, die
ja allerdings jetzt glücklich überwunden zu sein scheint: den Reichtum an noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/24>, abgerufen am 23.07.2024.