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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die antike Kunst und die Schule

des Mittelmeers schon in vorgeschichtlichen Zeiten wie von einer Kette um¬
schlossen, deren einzelne Glieder Ägypten, Phönizien, Nvrdsyrien, Kypros,
Rhodos, Kleinasien und die Küstenstaaten Griechenlands und seiner Inselwelt
jedes in sich geschlossen und doch mit den andern innig verbunden sind. In
Ägypten sind in Gräbern der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahr¬
tausends "mykenüische" Topfscherben in Menge gefunden worden, während in
Mykenä selbst mehrere Gegenstände zweifellos ägyptischen Ursprungs und
gleichen Alters zu Tage gekommen sind. Auf ägyptischen Reliefs derselben
Zeit sind ferner "die Großen des Landes Kefti und der Inseln, die im Meere
gelegen sind," abgebildet, goldne und silberne Gefäße tragend, die sie als
Tribut darbringen, und die Tracht dieser Leute und die Form und Verzierung
der von ihnen getragnen Vasen und Becher ist dieselbe, wie die Form der
prachtvollen, unweit von Amyklä gefundnen Goldbecher von Vafio und die
Tracht der darauf dargestellten Männer. Wer sind diese Kefti, die ihre kost¬
baren Gefäße auf der einen Seite nach Griechenland und auf der andern nach
Ägypten hin verhandeln, und wo sind die Inseln, "die im Meere gelegen
sind," zu suchen? Welchem Stamme gehörten die Herrscher der goldreichen
Burg von Mykenä an, waren es Griechen oder, wie schon die Sage erzählt,
aus dem Osten eingewanderte Fremdlinge, die von da ihre alt einheimische
Kunstübung mitbrachten und den Zusammenhang mit ihrer Heimat aufrecht
erhielten? Und welche geschichtlichen Ereignisse haben diese stolze Kultur ge¬
brochen? Die Beantwortung dieser Fragen kann erst die Zukunft bringen.
Wir erkennen aber schon jetzt, daß jene Vorstellungen, die für die ältesten
Zeiten entweder eine völlige Abschließung der Völker oder einen Krieg aller
gegen alle annehmen, vor den archäologischen Forschungen nicht stand halten.
Vielleicht wird man sogar noch etwas weiter gehen dürfen, als Overbeck, der
auch jetzt noch die friedliche Vermittlung zwischen Griechenland und den Völkern
des Ostens hauptsächlich den Phöniziern zuweist. Es werden nicht nur phö-
nizische Schiffe gewesen sein, die zwischen den Küsten Asiens und Griechen¬
lands segelten. Schon manche früher als ganz unglaubwürdig verworfne
griechische Sage ist durch neuere Funde beglaubigt worden. Sollte nicht auch
den Erzählungen von der Seeherrschaft des Minus eine geschichtliche That¬
sache zu Grunde liegen? Ägyptische Inschriften zeigen uns die Bewohner
Kleinasiens und der Kykladen tüchtig und mächtig zur See.

Wie in diesen Abschnitten der ältesten, vorgeschichtlichen Kunst, so hat
Overbeck auch bei den spätern Abschnitten die neuesten Forschungen und Ent¬
deckungen aufs beste verwertet, vor allem die Funde von Delos und die Aus¬
grabungen auf der athenischen Akropolis. Athen, das im fünften Jahrhundert
auf allen Gebieten und besonders in der dichtenden und bildenden Kunst die
Führung Griechenlands übernimmt, war uns in seiner frühern Entwicklung
bisher wenig bekannt. Jetzt können wir die allmähliche Ausbildung der "r-


Die antike Kunst und die Schule

des Mittelmeers schon in vorgeschichtlichen Zeiten wie von einer Kette um¬
schlossen, deren einzelne Glieder Ägypten, Phönizien, Nvrdsyrien, Kypros,
Rhodos, Kleinasien und die Küstenstaaten Griechenlands und seiner Inselwelt
jedes in sich geschlossen und doch mit den andern innig verbunden sind. In
Ägypten sind in Gräbern der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahr¬
tausends „mykenüische" Topfscherben in Menge gefunden worden, während in
Mykenä selbst mehrere Gegenstände zweifellos ägyptischen Ursprungs und
gleichen Alters zu Tage gekommen sind. Auf ägyptischen Reliefs derselben
Zeit sind ferner „die Großen des Landes Kefti und der Inseln, die im Meere
gelegen sind," abgebildet, goldne und silberne Gefäße tragend, die sie als
Tribut darbringen, und die Tracht dieser Leute und die Form und Verzierung
der von ihnen getragnen Vasen und Becher ist dieselbe, wie die Form der
prachtvollen, unweit von Amyklä gefundnen Goldbecher von Vafio und die
Tracht der darauf dargestellten Männer. Wer sind diese Kefti, die ihre kost¬
baren Gefäße auf der einen Seite nach Griechenland und auf der andern nach
Ägypten hin verhandeln, und wo sind die Inseln, „die im Meere gelegen
sind," zu suchen? Welchem Stamme gehörten die Herrscher der goldreichen
Burg von Mykenä an, waren es Griechen oder, wie schon die Sage erzählt,
aus dem Osten eingewanderte Fremdlinge, die von da ihre alt einheimische
Kunstübung mitbrachten und den Zusammenhang mit ihrer Heimat aufrecht
erhielten? Und welche geschichtlichen Ereignisse haben diese stolze Kultur ge¬
brochen? Die Beantwortung dieser Fragen kann erst die Zukunft bringen.
Wir erkennen aber schon jetzt, daß jene Vorstellungen, die für die ältesten
Zeiten entweder eine völlige Abschließung der Völker oder einen Krieg aller
gegen alle annehmen, vor den archäologischen Forschungen nicht stand halten.
Vielleicht wird man sogar noch etwas weiter gehen dürfen, als Overbeck, der
auch jetzt noch die friedliche Vermittlung zwischen Griechenland und den Völkern
des Ostens hauptsächlich den Phöniziern zuweist. Es werden nicht nur phö-
nizische Schiffe gewesen sein, die zwischen den Küsten Asiens und Griechen¬
lands segelten. Schon manche früher als ganz unglaubwürdig verworfne
griechische Sage ist durch neuere Funde beglaubigt worden. Sollte nicht auch
den Erzählungen von der Seeherrschaft des Minus eine geschichtliche That¬
sache zu Grunde liegen? Ägyptische Inschriften zeigen uns die Bewohner
Kleinasiens und der Kykladen tüchtig und mächtig zur See.

Wie in diesen Abschnitten der ältesten, vorgeschichtlichen Kunst, so hat
Overbeck auch bei den spätern Abschnitten die neuesten Forschungen und Ent¬
deckungen aufs beste verwertet, vor allem die Funde von Delos und die Aus¬
grabungen auf der athenischen Akropolis. Athen, das im fünften Jahrhundert
auf allen Gebieten und besonders in der dichtenden und bildenden Kunst die
Führung Griechenlands übernimmt, war uns in seiner frühern Entwicklung
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[0239] Die antike Kunst und die Schule des Mittelmeers schon in vorgeschichtlichen Zeiten wie von einer Kette um¬ schlossen, deren einzelne Glieder Ägypten, Phönizien, Nvrdsyrien, Kypros, Rhodos, Kleinasien und die Küstenstaaten Griechenlands und seiner Inselwelt jedes in sich geschlossen und doch mit den andern innig verbunden sind. In Ägypten sind in Gräbern der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahr¬ tausends „mykenüische" Topfscherben in Menge gefunden worden, während in Mykenä selbst mehrere Gegenstände zweifellos ägyptischen Ursprungs und gleichen Alters zu Tage gekommen sind. Auf ägyptischen Reliefs derselben Zeit sind ferner „die Großen des Landes Kefti und der Inseln, die im Meere gelegen sind," abgebildet, goldne und silberne Gefäße tragend, die sie als Tribut darbringen, und die Tracht dieser Leute und die Form und Verzierung der von ihnen getragnen Vasen und Becher ist dieselbe, wie die Form der prachtvollen, unweit von Amyklä gefundnen Goldbecher von Vafio und die Tracht der darauf dargestellten Männer. Wer sind diese Kefti, die ihre kost¬ baren Gefäße auf der einen Seite nach Griechenland und auf der andern nach Ägypten hin verhandeln, und wo sind die Inseln, „die im Meere gelegen sind," zu suchen? Welchem Stamme gehörten die Herrscher der goldreichen Burg von Mykenä an, waren es Griechen oder, wie schon die Sage erzählt, aus dem Osten eingewanderte Fremdlinge, die von da ihre alt einheimische Kunstübung mitbrachten und den Zusammenhang mit ihrer Heimat aufrecht erhielten? Und welche geschichtlichen Ereignisse haben diese stolze Kultur ge¬ brochen? Die Beantwortung dieser Fragen kann erst die Zukunft bringen. Wir erkennen aber schon jetzt, daß jene Vorstellungen, die für die ältesten Zeiten entweder eine völlige Abschließung der Völker oder einen Krieg aller gegen alle annehmen, vor den archäologischen Forschungen nicht stand halten. Vielleicht wird man sogar noch etwas weiter gehen dürfen, als Overbeck, der auch jetzt noch die friedliche Vermittlung zwischen Griechenland und den Völkern des Ostens hauptsächlich den Phöniziern zuweist. Es werden nicht nur phö- nizische Schiffe gewesen sein, die zwischen den Küsten Asiens und Griechen¬ lands segelten. Schon manche früher als ganz unglaubwürdig verworfne griechische Sage ist durch neuere Funde beglaubigt worden. Sollte nicht auch den Erzählungen von der Seeherrschaft des Minus eine geschichtliche That¬ sache zu Grunde liegen? Ägyptische Inschriften zeigen uns die Bewohner Kleinasiens und der Kykladen tüchtig und mächtig zur See. Wie in diesen Abschnitten der ältesten, vorgeschichtlichen Kunst, so hat Overbeck auch bei den spätern Abschnitten die neuesten Forschungen und Ent¬ deckungen aufs beste verwertet, vor allem die Funde von Delos und die Aus¬ grabungen auf der athenischen Akropolis. Athen, das im fünften Jahrhundert auf allen Gebieten und besonders in der dichtenden und bildenden Kunst die Führung Griechenlands übernimmt, war uns in seiner frühern Entwicklung bisher wenig bekannt. Jetzt können wir die allmähliche Ausbildung der «r-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/239>, abgerufen am 22.12.2024.