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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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lesungen und Übungen und die Führungen dnrch die Gipsabgußmuseen ver¬
hältnismäßig so schwach besucht werden. Man sollte meinen, jeder Philolog,
der seinen Beruf hoch hält, müßte die Überzeugung haben, daß er das geistige
Leben des Altertums nur dann völlig erfassen könne, wenn er neben der ge¬
schichtlichen Entwicklung und dem litterarischen Schaffen des griechischen Volkes
auch dessen künstlerische Begabung zu würdigen versteht. Deshalb sollte jeder
in einem seiner ersten Semester wenigstens einmal an einer Führung dnrch
eine Sammlung von Gipsabgüssen teilnehmen. Alles andre kann später aus
Handbüchern nachgeholt und ergänzt werden: die Thatsachen der Kunstgeschichte
erfährt man aus jeder Geschichte der griechischen Plastik. Was dagegen, wenn
einmal versäumt, später nur schwer und auch in "Ferienkursen" nicht voll¬
ständig nachgeholt werden kann, das ist die Gelegenheit, in einem Alter, wo
das Auge noch empfänglich ist, den Blick für die künstlerische Entwicklung
der Griechen zu schürfen, nicht mit dem geschriebnen oder gedruckten Wort,
sondern mit prüfendem Auge von Abguß zu Abguß das Emporschreiteu der
Kunst, ihren Sieg und ihren Verfall verfolgend. Was in diesen Stunden
gelernt wird, wird ein xr^<" ^ "e/ sein, während die Wissenschaft in ihren
Forschungen stets schwankend und unsicher bleiben wird. Neue Funde werden
die Lücken unsers Wissens füllen, werden aber auch oft genug das, was wir
schon zu wissen glaubten, als falsch erweisen. Der Schutt und die Trümmer,
die den Boden Griechenlands bedecken, bergen gewiß noch reiche Schätze. Die
Ausgrabungen und Entdeckungen des letzten Menschenalters haben nur einen
Bruchteil dessen, was zwei Jahrtausende zerstört und verschüttet haben, ans
Licht gebracht, und doch haben schon diese Funde ausgereicht, ganze Abschnitte
unsrer Kunstgeschichte umzugestalten. Mehr und mehr hat sich die Forschung
von der Künstlergeschichte, auf die früher ein besondrer Nachdruck gelegt werden
mußte, abgewandt und sich auf die eigentliche Kunstgeschichte gerichtet. Anstatt
der antiken Schriftquellen werden jetzt die erhaltnen Kunstwerke selbst in ihrem
ganzen Umfange gesammelt, gesichtet und eingeordnet, und gerade die älteste Zeit,
über die uns nur wenige sagenhafte Nachrichten bei den alten Schriftstellern vor¬
liegen, und deren Behandlung deshalb früher auf ganz unsichern Grundlagen
beruhte, ist uns durch die neuern Funde in ungeahnter Weise nahe gerückt.

Diese gewaltigen Fortschritte der Archäologie werden auch dem Laien
fühlbar werden, wenn er die neueste Auflage von Overbecks Geschichte der
griechischen Plastik mit den entsprechenden Abschnitten der ältern Auflagen
vergleicht, und zwar ebenso die Abschnitte, die nen hinzugekommen, wie die,
die gegen früher gestrichen worden sind. Während noch in der dritten Aus¬
lage der Gedanke eines Zusammenhanges zwischen der ältesten griechischen und
der ägyptischen Kunst so gut wie gänzlich abgewiesen und alle ältern asiatischen
Einwirkungen auf die "von ägyptischem wie von assyrischein noch wenig beein¬
flußten" Phönizier zurückgeführt wurden, sehen wir jetzt das östliche Becken


lesungen und Übungen und die Führungen dnrch die Gipsabgußmuseen ver¬
hältnismäßig so schwach besucht werden. Man sollte meinen, jeder Philolog,
der seinen Beruf hoch hält, müßte die Überzeugung haben, daß er das geistige
Leben des Altertums nur dann völlig erfassen könne, wenn er neben der ge¬
schichtlichen Entwicklung und dem litterarischen Schaffen des griechischen Volkes
auch dessen künstlerische Begabung zu würdigen versteht. Deshalb sollte jeder
in einem seiner ersten Semester wenigstens einmal an einer Führung dnrch
eine Sammlung von Gipsabgüssen teilnehmen. Alles andre kann später aus
Handbüchern nachgeholt und ergänzt werden: die Thatsachen der Kunstgeschichte
erfährt man aus jeder Geschichte der griechischen Plastik. Was dagegen, wenn
einmal versäumt, später nur schwer und auch in „Ferienkursen" nicht voll¬
ständig nachgeholt werden kann, das ist die Gelegenheit, in einem Alter, wo
das Auge noch empfänglich ist, den Blick für die künstlerische Entwicklung
der Griechen zu schürfen, nicht mit dem geschriebnen oder gedruckten Wort,
sondern mit prüfendem Auge von Abguß zu Abguß das Emporschreiteu der
Kunst, ihren Sieg und ihren Verfall verfolgend. Was in diesen Stunden
gelernt wird, wird ein xr^<« ^ «e/ sein, während die Wissenschaft in ihren
Forschungen stets schwankend und unsicher bleiben wird. Neue Funde werden
die Lücken unsers Wissens füllen, werden aber auch oft genug das, was wir
schon zu wissen glaubten, als falsch erweisen. Der Schutt und die Trümmer,
die den Boden Griechenlands bedecken, bergen gewiß noch reiche Schätze. Die
Ausgrabungen und Entdeckungen des letzten Menschenalters haben nur einen
Bruchteil dessen, was zwei Jahrtausende zerstört und verschüttet haben, ans
Licht gebracht, und doch haben schon diese Funde ausgereicht, ganze Abschnitte
unsrer Kunstgeschichte umzugestalten. Mehr und mehr hat sich die Forschung
von der Künstlergeschichte, auf die früher ein besondrer Nachdruck gelegt werden
mußte, abgewandt und sich auf die eigentliche Kunstgeschichte gerichtet. Anstatt
der antiken Schriftquellen werden jetzt die erhaltnen Kunstwerke selbst in ihrem
ganzen Umfange gesammelt, gesichtet und eingeordnet, und gerade die älteste Zeit,
über die uns nur wenige sagenhafte Nachrichten bei den alten Schriftstellern vor¬
liegen, und deren Behandlung deshalb früher auf ganz unsichern Grundlagen
beruhte, ist uns durch die neuern Funde in ungeahnter Weise nahe gerückt.

Diese gewaltigen Fortschritte der Archäologie werden auch dem Laien
fühlbar werden, wenn er die neueste Auflage von Overbecks Geschichte der
griechischen Plastik mit den entsprechenden Abschnitten der ältern Auflagen
vergleicht, und zwar ebenso die Abschnitte, die nen hinzugekommen, wie die,
die gegen früher gestrichen worden sind. Während noch in der dritten Aus¬
lage der Gedanke eines Zusammenhanges zwischen der ältesten griechischen und
der ägyptischen Kunst so gut wie gänzlich abgewiesen und alle ältern asiatischen
Einwirkungen auf die „von ägyptischem wie von assyrischein noch wenig beein¬
flußten" Phönizier zurückgeführt wurden, sehen wir jetzt das östliche Becken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/238>, abgerufen am 22.12.2024.