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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Arbeitskräfte, "Hände," die äußere staatliche Ordnung ist fast durchweg muster¬
haft, die Kunst des Schreibens und Lesens ist ziemlich allgemein verbreitet.
In Afrika, in Zentralafrika werden Gepäck und Waren auf den Köpfen der
Menschen, menschlicher Lasttiere, fortgebracht, die sich im Gänsemarsch Schritt
vor Schritt auf schmalen Fußsteigen bewegen, die Zeit ist wertlos, das Nichts¬
thun ist ein Ideal, und das "Recht auf Faulheit" ist überall anerkannt, die
Unordnung ist unbestritten, eine Zeitung oder ein gedrucktes Buch ist eine
Seltenheit, und selten ist jemand, der sie entziffern kann.

Vielleicht ist es der Beruf Afrikas, dem hastigen, eilfertigen, keuchenden,
überarbeiteten, nervösen Europa Geduld, viel Geduld zu lehren. Die öffent¬
liche Meinung in Deutschland hat angefangen, die afrikanische Langsamkeit zu
erkennen, hat sich aber noch nicht in sie gefügt. Die öffentliche Meinung ist
viel zu empfindlich, viel zu erregt, ein Erfolg läßt sie jauchzen, eine Nieder¬
lage macht sie zu Tode betrübt, sie hat Launen und Stimmungen als Folge¬
erscheinungen ihrer übergroßen Eilfertigkeit. Etwas afrikanisches Phlegma
kann dem von einem nllzuheftigen Thätigkeitstrieb beseelten Europäer vielleicht
nur zuträglich sein. Für uns Deutsche hat außerdem das Kriegsglück von
1870 zur Steigerung unsrer Empfindlichkeit beigetragen, wir sind keine Nieder¬
lagen und Schlappen und keine langdauernden Feldzüge mehr gewöhnt und
denken, es könnte sie gar nicht mehr geben; afrikanische Schlappen sind aber
im Verhältnis zu europäischen sehr bedeutungslos, denn wieviel Zeit, Zeit,
die alles ist, steht uns dort nicht zu Gebote, Versäumtes und Verlorenes
wieder gut und wett zu machen! Auch kann das Ansetzn unsrer Waffen in
Europa keineswegs darunter leiden; ein europäischer Sieg ist sogar unter
Umständen bedenklicher als eine afrikanische Niederlage, weil der europäische
Besiegte ohne Zeitverlust seine Revanche vorbereiten und suchen wird, weil er
bis zum letzten Atemzuge an keine völlige Ergebung denkt.

Es dürfte deshalb nicht angebracht sein, in afrikanischen Dingen eine
eben so peinliche Kritik zu üben, wie man es in europäischen als sein gutes
Recht in Anspruch nimmt. Unsre Heereseinrichtnngen, die Ausbildung unsrer
Mannschaften, die Führung durch die Befehlshaber sind bei uns tadellos,
aber in Afrika kann, wie sich gezeigt hat, nicht alles ebenso exakt wie daheim
am Schnürchen gehen; ein Mobilmachungs- und ein Feldzugsplan kann dort
nicht so "klappen" wie hier im Reiche. Ähnlich würde es in den großen
geschäftlichen Betrieben mit ihrer Buchführung, ihrer Arbeitseinteilung und
dergleichen sein. Eine solche Wirtschaft ohne Drill und regelrechte Dressur
braucht deshalb noch keine "Lotterwirtschaft" zu sein. Wenn sich die öffent¬
liche Meinung an diesen so ganz andern Zustand der Dinge gewöhnt haben
wird, wird sie ihn mit aller Unparteilichkeit und Unbefangenheit prüfen, wird
sich ein festes, nicht durch einen Einzelfall leicht zu erschütterndes Urteil bilden
und wird sie ihre hochfliegenden Erwartungen und hochgcsteigerten Wünsche


Arbeitskräfte, „Hände," die äußere staatliche Ordnung ist fast durchweg muster¬
haft, die Kunst des Schreibens und Lesens ist ziemlich allgemein verbreitet.
In Afrika, in Zentralafrika werden Gepäck und Waren auf den Köpfen der
Menschen, menschlicher Lasttiere, fortgebracht, die sich im Gänsemarsch Schritt
vor Schritt auf schmalen Fußsteigen bewegen, die Zeit ist wertlos, das Nichts¬
thun ist ein Ideal, und das „Recht auf Faulheit" ist überall anerkannt, die
Unordnung ist unbestritten, eine Zeitung oder ein gedrucktes Buch ist eine
Seltenheit, und selten ist jemand, der sie entziffern kann.

Vielleicht ist es der Beruf Afrikas, dem hastigen, eilfertigen, keuchenden,
überarbeiteten, nervösen Europa Geduld, viel Geduld zu lehren. Die öffent¬
liche Meinung in Deutschland hat angefangen, die afrikanische Langsamkeit zu
erkennen, hat sich aber noch nicht in sie gefügt. Die öffentliche Meinung ist
viel zu empfindlich, viel zu erregt, ein Erfolg läßt sie jauchzen, eine Nieder¬
lage macht sie zu Tode betrübt, sie hat Launen und Stimmungen als Folge¬
erscheinungen ihrer übergroßen Eilfertigkeit. Etwas afrikanisches Phlegma
kann dem von einem nllzuheftigen Thätigkeitstrieb beseelten Europäer vielleicht
nur zuträglich sein. Für uns Deutsche hat außerdem das Kriegsglück von
1870 zur Steigerung unsrer Empfindlichkeit beigetragen, wir sind keine Nieder¬
lagen und Schlappen und keine langdauernden Feldzüge mehr gewöhnt und
denken, es könnte sie gar nicht mehr geben; afrikanische Schlappen sind aber
im Verhältnis zu europäischen sehr bedeutungslos, denn wieviel Zeit, Zeit,
die alles ist, steht uns dort nicht zu Gebote, Versäumtes und Verlorenes
wieder gut und wett zu machen! Auch kann das Ansetzn unsrer Waffen in
Europa keineswegs darunter leiden; ein europäischer Sieg ist sogar unter
Umständen bedenklicher als eine afrikanische Niederlage, weil der europäische
Besiegte ohne Zeitverlust seine Revanche vorbereiten und suchen wird, weil er
bis zum letzten Atemzuge an keine völlige Ergebung denkt.

Es dürfte deshalb nicht angebracht sein, in afrikanischen Dingen eine
eben so peinliche Kritik zu üben, wie man es in europäischen als sein gutes
Recht in Anspruch nimmt. Unsre Heereseinrichtnngen, die Ausbildung unsrer
Mannschaften, die Führung durch die Befehlshaber sind bei uns tadellos,
aber in Afrika kann, wie sich gezeigt hat, nicht alles ebenso exakt wie daheim
am Schnürchen gehen; ein Mobilmachungs- und ein Feldzugsplan kann dort
nicht so „klappen" wie hier im Reiche. Ähnlich würde es in den großen
geschäftlichen Betrieben mit ihrer Buchführung, ihrer Arbeitseinteilung und
dergleichen sein. Eine solche Wirtschaft ohne Drill und regelrechte Dressur
braucht deshalb noch keine „Lotterwirtschaft" zu sein. Wenn sich die öffent¬
liche Meinung an diesen so ganz andern Zustand der Dinge gewöhnt haben
wird, wird sie ihn mit aller Unparteilichkeit und Unbefangenheit prüfen, wird
sich ein festes, nicht durch einen Einzelfall leicht zu erschütterndes Urteil bilden
und wird sie ihre hochfliegenden Erwartungen und hochgcsteigerten Wünsche


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[0215] Arbeitskräfte, „Hände," die äußere staatliche Ordnung ist fast durchweg muster¬ haft, die Kunst des Schreibens und Lesens ist ziemlich allgemein verbreitet. In Afrika, in Zentralafrika werden Gepäck und Waren auf den Köpfen der Menschen, menschlicher Lasttiere, fortgebracht, die sich im Gänsemarsch Schritt vor Schritt auf schmalen Fußsteigen bewegen, die Zeit ist wertlos, das Nichts¬ thun ist ein Ideal, und das „Recht auf Faulheit" ist überall anerkannt, die Unordnung ist unbestritten, eine Zeitung oder ein gedrucktes Buch ist eine Seltenheit, und selten ist jemand, der sie entziffern kann. Vielleicht ist es der Beruf Afrikas, dem hastigen, eilfertigen, keuchenden, überarbeiteten, nervösen Europa Geduld, viel Geduld zu lehren. Die öffent¬ liche Meinung in Deutschland hat angefangen, die afrikanische Langsamkeit zu erkennen, hat sich aber noch nicht in sie gefügt. Die öffentliche Meinung ist viel zu empfindlich, viel zu erregt, ein Erfolg läßt sie jauchzen, eine Nieder¬ lage macht sie zu Tode betrübt, sie hat Launen und Stimmungen als Folge¬ erscheinungen ihrer übergroßen Eilfertigkeit. Etwas afrikanisches Phlegma kann dem von einem nllzuheftigen Thätigkeitstrieb beseelten Europäer vielleicht nur zuträglich sein. Für uns Deutsche hat außerdem das Kriegsglück von 1870 zur Steigerung unsrer Empfindlichkeit beigetragen, wir sind keine Nieder¬ lagen und Schlappen und keine langdauernden Feldzüge mehr gewöhnt und denken, es könnte sie gar nicht mehr geben; afrikanische Schlappen sind aber im Verhältnis zu europäischen sehr bedeutungslos, denn wieviel Zeit, Zeit, die alles ist, steht uns dort nicht zu Gebote, Versäumtes und Verlorenes wieder gut und wett zu machen! Auch kann das Ansetzn unsrer Waffen in Europa keineswegs darunter leiden; ein europäischer Sieg ist sogar unter Umständen bedenklicher als eine afrikanische Niederlage, weil der europäische Besiegte ohne Zeitverlust seine Revanche vorbereiten und suchen wird, weil er bis zum letzten Atemzuge an keine völlige Ergebung denkt. Es dürfte deshalb nicht angebracht sein, in afrikanischen Dingen eine eben so peinliche Kritik zu üben, wie man es in europäischen als sein gutes Recht in Anspruch nimmt. Unsre Heereseinrichtnngen, die Ausbildung unsrer Mannschaften, die Führung durch die Befehlshaber sind bei uns tadellos, aber in Afrika kann, wie sich gezeigt hat, nicht alles ebenso exakt wie daheim am Schnürchen gehen; ein Mobilmachungs- und ein Feldzugsplan kann dort nicht so „klappen" wie hier im Reiche. Ähnlich würde es in den großen geschäftlichen Betrieben mit ihrer Buchführung, ihrer Arbeitseinteilung und dergleichen sein. Eine solche Wirtschaft ohne Drill und regelrechte Dressur braucht deshalb noch keine „Lotterwirtschaft" zu sein. Wenn sich die öffent¬ liche Meinung an diesen so ganz andern Zustand der Dinge gewöhnt haben wird, wird sie ihn mit aller Unparteilichkeit und Unbefangenheit prüfen, wird sich ein festes, nicht durch einen Einzelfall leicht zu erschütterndes Urteil bilden und wird sie ihre hochfliegenden Erwartungen und hochgcsteigerten Wünsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/215>, abgerufen am 23.07.2024.