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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Bilder aus dem Universitätsleben

Es dauerte nicht lange, und das erste Gedicht war da. Das gab das
Signal zu einem wahren Sturm von Erklärungsversuchen. Die Philosophen
schrieben eine gelehrte Abhandlung nach der andern. Die wissenschaftlichen
Ansichten platzten ans einander, zwischen den einzelnen Parteien entbrannten
die heftigsten Fehden. Aus Artikeln wurden Broschüren, aus den Broschüren
dickleibige Bücher, aus den Büchern ganze Bibliotheken. Die Bildhauer
nahmen sich die Vase zum Modell und bildeten sie nach in Marmor, Erz
und Holz. Die Maler gebrauchten sie in allen Stellungen und zu allen
Zwecken im Stillleben und im Genre, im Landschaftsbilde und im historischen
Gemälde. Die Musiker ließen sich durch den unbekannten rätselhaften Inhalt
zu herrlichen Tonschöpfungen begeistern, und die Werke der lyrischen, epischen
und dramatischen Dichter, die das Wesen der geheimnisvollen Vase zu er¬
gründen und darzustellen suchten, wuchsen fast in beängstigender Weise.

Der alte König ließ alle Bücher sammeln von der einfachen Broschüre
bis zum reichsten Goldschnittband. Im Saal wurden große Schränke auf¬
gestellt, und bald waren sie alle von oben bis unten vollgefüllt. Der König
freute sich darüber, denn er meinte, daß ein Volk nicht vom Brot allein leben
könne, und deshalb ermutigte er immer wieder zu neuen Versuchen, das Pro¬
blem zu lösen. Als aber einige von den großen Geistern darüber wahnsinnig
wurden, andre sich aus Verzweiflung vergifteten oder ertränkten, wurde der
König zornig. Er rief den Magier zu sich, fuhr ihn heftig an und drohte
ihn zu töten, wenn er ihm nicht sofort den Inhalt der Vase verriete und
damit den Gefahren ein Ende machte.

Der Magier verbeugte sich stumm, ging mit dem alten König allein in
den Saal und nahm zwei Leitern mit. Dann stiegen beide die Leitern Humus,
"n, von oben in die Vase hineinzusehen. Der Magier öffnete dnrch Anschlagen
mit einem Goldstück den Deckel, dann trat er etwas zurück, und der König
beugte sich aufs höchste gespannt über den Rand und blickte hinein. Er bog
den Kopf nach rechts, er bog ihn nach links. Seine Augen suchten oben und
suchten unten; sie flogen an den Wänden entlang, sie schweiften nach dem Fuß
und nach dem Halse. Plötzlich hob er den Kopf zornentflammt empor, seine Augen
rollten wild, und wütend schrie er den Magier an: Ein niederträchtiger Lügner
bist du, ein gemeiner Schwindler! Nichts ist drin! Nichts! Und das sind die
Schätze, die meinem Volk und der Nachwelt zum Segen gereichen sollen?

Aber der Magier blieb ruhig und zeigte lächelnd auf die Schränke un
Saal: Dort, mein König, sind jene Schätze! Ohne den unbekannten anhält
der Vase wären diese unsterblichen Schütze nicht gehoben worden. Der alte
König schwieg und musterte die Schränke. Dann stiegen beide langsam die
Leiter herunter. Und doch, sagte der König stirnrunzelnd, ürgerts mich, daß
uH alter Mann mich so habe hinters Licht führen lassen. Es ist das erste¬
mal in meinem Leben, daß ich auf solche Weise getäuscht worden bin.


Bilder aus dem Universitätsleben

Es dauerte nicht lange, und das erste Gedicht war da. Das gab das
Signal zu einem wahren Sturm von Erklärungsversuchen. Die Philosophen
schrieben eine gelehrte Abhandlung nach der andern. Die wissenschaftlichen
Ansichten platzten ans einander, zwischen den einzelnen Parteien entbrannten
die heftigsten Fehden. Aus Artikeln wurden Broschüren, aus den Broschüren
dickleibige Bücher, aus den Büchern ganze Bibliotheken. Die Bildhauer
nahmen sich die Vase zum Modell und bildeten sie nach in Marmor, Erz
und Holz. Die Maler gebrauchten sie in allen Stellungen und zu allen
Zwecken im Stillleben und im Genre, im Landschaftsbilde und im historischen
Gemälde. Die Musiker ließen sich durch den unbekannten rätselhaften Inhalt
zu herrlichen Tonschöpfungen begeistern, und die Werke der lyrischen, epischen
und dramatischen Dichter, die das Wesen der geheimnisvollen Vase zu er¬
gründen und darzustellen suchten, wuchsen fast in beängstigender Weise.

Der alte König ließ alle Bücher sammeln von der einfachen Broschüre
bis zum reichsten Goldschnittband. Im Saal wurden große Schränke auf¬
gestellt, und bald waren sie alle von oben bis unten vollgefüllt. Der König
freute sich darüber, denn er meinte, daß ein Volk nicht vom Brot allein leben
könne, und deshalb ermutigte er immer wieder zu neuen Versuchen, das Pro¬
blem zu lösen. Als aber einige von den großen Geistern darüber wahnsinnig
wurden, andre sich aus Verzweiflung vergifteten oder ertränkten, wurde der
König zornig. Er rief den Magier zu sich, fuhr ihn heftig an und drohte
ihn zu töten, wenn er ihm nicht sofort den Inhalt der Vase verriete und
damit den Gefahren ein Ende machte.

Der Magier verbeugte sich stumm, ging mit dem alten König allein in
den Saal und nahm zwei Leitern mit. Dann stiegen beide die Leitern Humus,
«n, von oben in die Vase hineinzusehen. Der Magier öffnete dnrch Anschlagen
mit einem Goldstück den Deckel, dann trat er etwas zurück, und der König
beugte sich aufs höchste gespannt über den Rand und blickte hinein. Er bog
den Kopf nach rechts, er bog ihn nach links. Seine Augen suchten oben und
suchten unten; sie flogen an den Wänden entlang, sie schweiften nach dem Fuß
und nach dem Halse. Plötzlich hob er den Kopf zornentflammt empor, seine Augen
rollten wild, und wütend schrie er den Magier an: Ein niederträchtiger Lügner
bist du, ein gemeiner Schwindler! Nichts ist drin! Nichts! Und das sind die
Schätze, die meinem Volk und der Nachwelt zum Segen gereichen sollen?

Aber der Magier blieb ruhig und zeigte lächelnd auf die Schränke un
Saal: Dort, mein König, sind jene Schätze! Ohne den unbekannten anhält
der Vase wären diese unsterblichen Schütze nicht gehoben worden. Der alte
König schwieg und musterte die Schränke. Dann stiegen beide langsam die
Leiter herunter. Und doch, sagte der König stirnrunzelnd, ürgerts mich, daß
uH alter Mann mich so habe hinters Licht führen lassen. Es ist das erste¬
mal in meinem Leben, daß ich auf solche Weise getäuscht worden bin.


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[0183] Bilder aus dem Universitätsleben Es dauerte nicht lange, und das erste Gedicht war da. Das gab das Signal zu einem wahren Sturm von Erklärungsversuchen. Die Philosophen schrieben eine gelehrte Abhandlung nach der andern. Die wissenschaftlichen Ansichten platzten ans einander, zwischen den einzelnen Parteien entbrannten die heftigsten Fehden. Aus Artikeln wurden Broschüren, aus den Broschüren dickleibige Bücher, aus den Büchern ganze Bibliotheken. Die Bildhauer nahmen sich die Vase zum Modell und bildeten sie nach in Marmor, Erz und Holz. Die Maler gebrauchten sie in allen Stellungen und zu allen Zwecken im Stillleben und im Genre, im Landschaftsbilde und im historischen Gemälde. Die Musiker ließen sich durch den unbekannten rätselhaften Inhalt zu herrlichen Tonschöpfungen begeistern, und die Werke der lyrischen, epischen und dramatischen Dichter, die das Wesen der geheimnisvollen Vase zu er¬ gründen und darzustellen suchten, wuchsen fast in beängstigender Weise. Der alte König ließ alle Bücher sammeln von der einfachen Broschüre bis zum reichsten Goldschnittband. Im Saal wurden große Schränke auf¬ gestellt, und bald waren sie alle von oben bis unten vollgefüllt. Der König freute sich darüber, denn er meinte, daß ein Volk nicht vom Brot allein leben könne, und deshalb ermutigte er immer wieder zu neuen Versuchen, das Pro¬ blem zu lösen. Als aber einige von den großen Geistern darüber wahnsinnig wurden, andre sich aus Verzweiflung vergifteten oder ertränkten, wurde der König zornig. Er rief den Magier zu sich, fuhr ihn heftig an und drohte ihn zu töten, wenn er ihm nicht sofort den Inhalt der Vase verriete und damit den Gefahren ein Ende machte. Der Magier verbeugte sich stumm, ging mit dem alten König allein in den Saal und nahm zwei Leitern mit. Dann stiegen beide die Leitern Humus, «n, von oben in die Vase hineinzusehen. Der Magier öffnete dnrch Anschlagen mit einem Goldstück den Deckel, dann trat er etwas zurück, und der König beugte sich aufs höchste gespannt über den Rand und blickte hinein. Er bog den Kopf nach rechts, er bog ihn nach links. Seine Augen suchten oben und suchten unten; sie flogen an den Wänden entlang, sie schweiften nach dem Fuß und nach dem Halse. Plötzlich hob er den Kopf zornentflammt empor, seine Augen rollten wild, und wütend schrie er den Magier an: Ein niederträchtiger Lügner bist du, ein gemeiner Schwindler! Nichts ist drin! Nichts! Und das sind die Schätze, die meinem Volk und der Nachwelt zum Segen gereichen sollen? Aber der Magier blieb ruhig und zeigte lächelnd auf die Schränke un Saal: Dort, mein König, sind jene Schätze! Ohne den unbekannten anhält der Vase wären diese unsterblichen Schütze nicht gehoben worden. Der alte König schwieg und musterte die Schränke. Dann stiegen beide langsam die Leiter herunter. Und doch, sagte der König stirnrunzelnd, ürgerts mich, daß uH alter Mann mich so habe hinters Licht führen lassen. Es ist das erste¬ mal in meinem Leben, daß ich auf solche Weise getäuscht worden bin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/183>, abgerufen am 23.07.2024.