Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.Weder Kommunismus noch Kapitalismus des Einzelnen." Demnach stehe die Sozialpolitik "mitten auf der Brücke, die Weder Kommunismus noch Kapitalismus des Einzelnen." Demnach stehe die Sozialpolitik „mitten auf der Brücke, die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213281"/> <fw type="header" place="top"> Weder Kommunismus noch Kapitalismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_464" prev="#ID_463" next="#ID_465"> des Einzelnen." Demnach stehe die Sozialpolitik „mitten auf der Brücke, die<lb/> von den Bedingungen fLebensbedingnngen?j des Menschen zu seiner Aufgabe<lb/> hinüberführt." Nach folgendem Plane habe sie zu verfahren: „Sie hat fest¬<lb/> zustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis, mit Beachtung der der<lb/> Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel, ein Programm von Forderungen<lb/> zu entwickeln." Mit diesem Ideal habe sie die Wirklichkeit zu vergleichen,<lb/> daraus zu erkennen, was verbesserungsbedürftig sei, endlich die Mittel und<lb/> Wege zur Besserung anzugeben. Wir sind nnn der Ansicht, daß auf For¬<lb/> derungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann,<lb/> weil darüber, was Rechtens sei, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten<lb/> werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engern Sinne sozial¬<lb/> politischen Fragen lasten sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn<lb/> ermittelt werden, ein wie großer Teil, sei es des eignen Arbeitsertrages, sei<lb/> es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter<lb/> Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht<lb/> an sich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dein Boden eines historischen,<lb/> sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufs¬<lb/> stände gegen einander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andre.<lb/> Auch wir haben z. B. die Empfindung, daß eigentlich jeder arbeitende oder<lb/> wenigstens arbeitswillige Mensch Anspruch habe auf ein Stück heimischen<lb/> Bodens; aber wer dieser Empfindung in einem Gesetzvorschlage Ausdruck ver¬<lb/> leihen wollte, der würde sich damit doch nur lächerlich machen. Nicht aus<lb/> solchen Empfindungen ist die kurbraudenburgische und preußische Bauernpvlitik<lb/> geflossen, sondern aus der Einsicht, daß der König für sein Heer „Kerls" und<lb/> Pferde braucht, für die Staatsverwaltung aber Steuern, und daß alle drei<lb/> Bedürfnisse nicht von Latifundien mit proletarischer Arbeiterschaft, sondern<lb/> uur von Bauerhöfen bestritten werden können. Immer sind es nur solche,<lb/> wenn man will gemeine, Erwägungen, nicht Ideale und Empfindungen, auf<lb/> die der Gesetzgeber baut. So wohlthätig demnach auch ein lebhaftes und<lb/> feines Rechtsgefühl auf die Volkswirtschaft wie auf die Sozialpolitik einwirken<lb/> mag, und wie hoch wir demgemäß auch das Verdienst aller Staatsmänner<lb/> und Richter, aller Geistlichen und Lehrer, aller Schriftsteller und Volksredner<lb/> anschlagen, die den Rechtssinn wecken, schärfen und verfeinern, so fragen wir<lb/> doch bei volkswirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht darnach, was das Recht<lb/> fordere, sondern was notwendig, was wünschenswert, was möglich und er¬<lb/> reichbar sei, denn darüber kann unter Verstündigen eine Einigung erzielt werden.<lb/> Und wenn in der Kritik des vorliegenden Buches mehr als einmal auf schreiende<lb/> Ungerechtigkeiten hingewiesen werden wird, so geschieht es nicht, um den sitt¬<lb/> lichen Unwillen zu erregen oder zum Emporstreben aus dieser schlechten Wirk¬<lb/> lichkeit in einen Jdealzustcmd verwirklichter Gerechtigkeit anzuspornen, sondern<lb/> M zwei ganz andern Zwecken. Erstens sind diese Ungerechtigkeiten von einem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0167]
Weder Kommunismus noch Kapitalismus
des Einzelnen." Demnach stehe die Sozialpolitik „mitten auf der Brücke, die
von den Bedingungen fLebensbedingnngen?j des Menschen zu seiner Aufgabe
hinüberführt." Nach folgendem Plane habe sie zu verfahren: „Sie hat fest¬
zustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis, mit Beachtung der der
Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel, ein Programm von Forderungen
zu entwickeln." Mit diesem Ideal habe sie die Wirklichkeit zu vergleichen,
daraus zu erkennen, was verbesserungsbedürftig sei, endlich die Mittel und
Wege zur Besserung anzugeben. Wir sind nnn der Ansicht, daß auf For¬
derungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann,
weil darüber, was Rechtens sei, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten
werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engern Sinne sozial¬
politischen Fragen lasten sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn
ermittelt werden, ein wie großer Teil, sei es des eignen Arbeitsertrages, sei
es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter
Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht
an sich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dein Boden eines historischen,
sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufs¬
stände gegen einander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andre.
Auch wir haben z. B. die Empfindung, daß eigentlich jeder arbeitende oder
wenigstens arbeitswillige Mensch Anspruch habe auf ein Stück heimischen
Bodens; aber wer dieser Empfindung in einem Gesetzvorschlage Ausdruck ver¬
leihen wollte, der würde sich damit doch nur lächerlich machen. Nicht aus
solchen Empfindungen ist die kurbraudenburgische und preußische Bauernpvlitik
geflossen, sondern aus der Einsicht, daß der König für sein Heer „Kerls" und
Pferde braucht, für die Staatsverwaltung aber Steuern, und daß alle drei
Bedürfnisse nicht von Latifundien mit proletarischer Arbeiterschaft, sondern
uur von Bauerhöfen bestritten werden können. Immer sind es nur solche,
wenn man will gemeine, Erwägungen, nicht Ideale und Empfindungen, auf
die der Gesetzgeber baut. So wohlthätig demnach auch ein lebhaftes und
feines Rechtsgefühl auf die Volkswirtschaft wie auf die Sozialpolitik einwirken
mag, und wie hoch wir demgemäß auch das Verdienst aller Staatsmänner
und Richter, aller Geistlichen und Lehrer, aller Schriftsteller und Volksredner
anschlagen, die den Rechtssinn wecken, schärfen und verfeinern, so fragen wir
doch bei volkswirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht darnach, was das Recht
fordere, sondern was notwendig, was wünschenswert, was möglich und er¬
reichbar sei, denn darüber kann unter Verstündigen eine Einigung erzielt werden.
Und wenn in der Kritik des vorliegenden Buches mehr als einmal auf schreiende
Ungerechtigkeiten hingewiesen werden wird, so geschieht es nicht, um den sitt¬
lichen Unwillen zu erregen oder zum Emporstreben aus dieser schlechten Wirk¬
lichkeit in einen Jdealzustcmd verwirklichter Gerechtigkeit anzuspornen, sondern
M zwei ganz andern Zwecken. Erstens sind diese Ungerechtigkeiten von einem
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