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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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bei uns Deutschen des deutschen Gesellschaftskörpers, zu fragen, der ja ganz
anders gebaut ist als der englische, italienische und russische; am ähnlichsten
ist er dem französischen. Nun können die Glieder dieses Körpers zwar keinen
Augenblick ohne Güter sein, aber die erste Frage lautet doch nicht, wie viel
und welche Güter sie haben, sondern was sie selbst sind, z. B. ob sie Frei¬
bauern oder Pächter, Fabrikarbeiter oder Handwerksmeister und Gesellen sind,
und in welchem Verhältnis der Über- und Unterordnung oder Beiordnung sie
zu einander stehen oder stehen sollen. Eine der brennendsten sozialen Fragen
unsrer Zeit z. B. -- die beliebte Einzahl: "die soziale Frage" ist ein gräßlicher
Unsinn -- lautet: Ist ein freier Stand besitzloser Arbeiter möglich? Woher
für Arbeiter, die keinen eignen Acker haben, das Brot genommen werden soll,
ist keine soziale, sondern eine wirtschaftliche Frage. Freilich interessirt sie den
Sozialpolitiker in hohem Grade; denn wenn es dem Arbeiter an Brot fehlt,
so verfällt dieses Glied des Gesellschaftskörpers leiblichem und geistigem Siech¬
tum, und zugleich tritt zwischen ihm und den übrigen Gliedern eine feindselige
Spannung ein. Sozialwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sind vielfach mit
einander verflochten, aber die erste ist nicht ein Teil der zweiten; eher dürfte
man die zweite der ersten unterordnen und sagen, die Volkswirtschaft habe zu
untersuchen, wie die Glieder des Gcsellschaftskörpers mit den notwendigen
Gütern zu versorgen seien.

Ferner: hätte sich Wolf die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus klar
gemacht, so würde er sich nicht durch den Krieg der Sozialisten gegen das
"Kapital" und den der Kapitalisten gegen die Sozinldemokraten haben verleiten
lassen, beide als Gegensätze zu behandeln und für den zweiten gegen den erstell
einzutreten. Der Gegensatz des Sozialismus ist nicht der Kapitalismus, son¬
dern der Individualismus, und wer den Kapitalismus bekämpft, ist darum
noch kein Kommunist. Darin sind heutzutage wohl so ziemlich alle Denker
einig, ja auch Wolf selbst äußert sich gelegentlich so, daß sich Sozialismus
und Individualismus nicht zu einander verhalten wie Gott und Teufel, wobei
die Parteigänger jedes der beiden Systeme das ihrige für göttlich und das des
Gegners für teuflisch erklären, sondern daß sie polare Gegensätze und einer so
unentbehrlich wie der andre sind, sodaß in jedem einzelnen Falle nnr um die
Abgrenzung ihrer Berechtigung gestritten werden kann. Die Alleinherrschaft
des Individualismus würde zunächst zur Vernichtung des Staats führen. In
der That war in dem individualistischen England der Staat zeitweilig nahe
daran, zu verschwinden, während dem preußischen Staatswesen das vorherr¬
schende Staatsgefühl immer einen kräftigen sozialistischen Zug aufgedrückt hat.
Der Kapitalismus nun findet seine Rechnung allerdings am besten bei schwacher
Staatsgewalt und nach Sprengung aller sozialen Verbände; aber er weiß sich
doch auch in die Verhältnisse zu schicken, eine starke Regierung sehr gut sür
seine Zwecke zu benutzen und der Organisation der Besitzlosen und der kleinen


bei uns Deutschen des deutschen Gesellschaftskörpers, zu fragen, der ja ganz
anders gebaut ist als der englische, italienische und russische; am ähnlichsten
ist er dem französischen. Nun können die Glieder dieses Körpers zwar keinen
Augenblick ohne Güter sein, aber die erste Frage lautet doch nicht, wie viel
und welche Güter sie haben, sondern was sie selbst sind, z. B. ob sie Frei¬
bauern oder Pächter, Fabrikarbeiter oder Handwerksmeister und Gesellen sind,
und in welchem Verhältnis der Über- und Unterordnung oder Beiordnung sie
zu einander stehen oder stehen sollen. Eine der brennendsten sozialen Fragen
unsrer Zeit z. B. — die beliebte Einzahl: „die soziale Frage" ist ein gräßlicher
Unsinn — lautet: Ist ein freier Stand besitzloser Arbeiter möglich? Woher
für Arbeiter, die keinen eignen Acker haben, das Brot genommen werden soll,
ist keine soziale, sondern eine wirtschaftliche Frage. Freilich interessirt sie den
Sozialpolitiker in hohem Grade; denn wenn es dem Arbeiter an Brot fehlt,
so verfällt dieses Glied des Gesellschaftskörpers leiblichem und geistigem Siech¬
tum, und zugleich tritt zwischen ihm und den übrigen Gliedern eine feindselige
Spannung ein. Sozialwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sind vielfach mit
einander verflochten, aber die erste ist nicht ein Teil der zweiten; eher dürfte
man die zweite der ersten unterordnen und sagen, die Volkswirtschaft habe zu
untersuchen, wie die Glieder des Gcsellschaftskörpers mit den notwendigen
Gütern zu versorgen seien.

Ferner: hätte sich Wolf die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus klar
gemacht, so würde er sich nicht durch den Krieg der Sozialisten gegen das
„Kapital" und den der Kapitalisten gegen die Sozinldemokraten haben verleiten
lassen, beide als Gegensätze zu behandeln und für den zweiten gegen den erstell
einzutreten. Der Gegensatz des Sozialismus ist nicht der Kapitalismus, son¬
dern der Individualismus, und wer den Kapitalismus bekämpft, ist darum
noch kein Kommunist. Darin sind heutzutage wohl so ziemlich alle Denker
einig, ja auch Wolf selbst äußert sich gelegentlich so, daß sich Sozialismus
und Individualismus nicht zu einander verhalten wie Gott und Teufel, wobei
die Parteigänger jedes der beiden Systeme das ihrige für göttlich und das des
Gegners für teuflisch erklären, sondern daß sie polare Gegensätze und einer so
unentbehrlich wie der andre sind, sodaß in jedem einzelnen Falle nnr um die
Abgrenzung ihrer Berechtigung gestritten werden kann. Die Alleinherrschaft
des Individualismus würde zunächst zur Vernichtung des Staats führen. In
der That war in dem individualistischen England der Staat zeitweilig nahe
daran, zu verschwinden, während dem preußischen Staatswesen das vorherr¬
schende Staatsgefühl immer einen kräftigen sozialistischen Zug aufgedrückt hat.
Der Kapitalismus nun findet seine Rechnung allerdings am besten bei schwacher
Staatsgewalt und nach Sprengung aller sozialen Verbände; aber er weiß sich
doch auch in die Verhältnisse zu schicken, eine starke Regierung sehr gut sür
seine Zwecke zu benutzen und der Organisation der Besitzlosen und der kleinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/165>, abgerufen am 25.08.2024.