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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Weder Aommnnismus noch Kapitalismus

fremd, hat dieser Geist die Bücher und Zahlentabellen, aus denen er sein
Wissen und sein Urteil schöpft, nicht richtig zu deuten vermocht. Mit seinen
ethischen, historischen und politischen Anschauungen stimmen wir in den meisten
Punkten überein, aber diese Übereinstimmung läßt uns das Gefährliche des
Buches nur um so viel gefährlicher erscheinen. Vielleicht wird sich aus dem
zweiten Bande ergeben, daß seine Sozialpolitik ganz die unsre ist; allein wenn
die Politiker, der Einladung des Verfassers folgend, auf die Voraussetzung
der Vortrefflichkeit des herrschenden Wirtschaftssystems bauen, dann bauen sie
auf Sand. So sehr wir den guten Gedanken des Buches die weiteste Ver¬
breitung wünschen, so dringend müssen wir wünschen, daß die Herrschenden
das süße Opiat seiner Reichtumsstatistik, das sie mit Wollust schlürfen werden,
nicht ohne Gegengift einnehmen. Ein solches gedenken wir in einer Reihe von
Aufsätzen zu bereiten. Wir werden dabei im allgemeinen der Einteilung des
Buches folgen. (Die Überschriften seiner fünf Abschnitte lauten: 1. Eine Ge¬
schichte der sozialen Moral, gleichzeitig Geschichte der sozialen Grundrechte-
2. Das soziale Recht; moderner Standpunkt. 3/Kritik des Sozialismus.
4. Kritik der "kapitalistischen" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. 5. Ge¬
rechtigkeit.) Doch werden wir vorzugsweise bei den Abschnitten 3 und 4 ver¬
weilen und hie und da auch das für unsern Zweck zusammengehörige aus ver-
schiednen Abschnitten des Buches zusammenholen.

Der Verfasser ist "jedem Streit über Begriffe aus dem Wege gegangen."
Streiten wollen auch wir nicht, aber fo weit muß doch der Begriff berücksichtigt
werden, daß man sich mit dem Leser über die Bedeutung der zu gebrauchenden
Wörter verständigt, sonst schreibt man ins Blaue hinein. Nachdem der Ver¬
fasser die Nationalökonomie (er meint eigentlich die Nativnalvkonomik) richtig
definirt hat, erklärt er die Sozialpolitik für einen "Abschnitt" der praktischen
Nationalökonomie, nämlich für den, der sich mit der Güterverteilung zu be¬
schäftigen habe. Diese Begriffserklärung ist offenbar viel zu eng. Zwar aus
dem konfusen Geschwätz über Sozialpolitik, das seit einigen Jahren in Parla¬
menten, amtlichen Kundgebungen, Zeitungen. Vereinssitzungcn, Volksversamm¬
lungen, Schullehrcrkonferenzen und weiß Gott wo noch verführt wird, ist kein
Aufschluß über den Sinn des Wortes zu erlangen. Aber nachdem Schciffle
sein großes Werk über den Ban der Gesellschaft geschrieben, und nachdem sich
eine ganze Schule von Soziologen gebildet hat, darf man wohl die Soziologie
als die Lehre von dem Bau, den Lebensbedingungen und Lebensverrichtungen
der Gesellschaft bezeichnen. Die Sozialpolitik würde dann die Wissenschaft
von dem sein, was der Staat zu thun hat, um den Gesellschaftsbau lebendig
und in guter Gesundheit zu erhalten. Denn nicht um einen toten, sondern
um einen organischen Bau, um einen beseelten Leib handelt es sich, und daher
ist in dieser Wissenschaft zuerst nach der Gliederung des Gesellschaftsbaues
odervGesellschaftskörpers, oder vielmehr nach der Gliederung dieses Körpers,


Weder Aommnnismus noch Kapitalismus

fremd, hat dieser Geist die Bücher und Zahlentabellen, aus denen er sein
Wissen und sein Urteil schöpft, nicht richtig zu deuten vermocht. Mit seinen
ethischen, historischen und politischen Anschauungen stimmen wir in den meisten
Punkten überein, aber diese Übereinstimmung läßt uns das Gefährliche des
Buches nur um so viel gefährlicher erscheinen. Vielleicht wird sich aus dem
zweiten Bande ergeben, daß seine Sozialpolitik ganz die unsre ist; allein wenn
die Politiker, der Einladung des Verfassers folgend, auf die Voraussetzung
der Vortrefflichkeit des herrschenden Wirtschaftssystems bauen, dann bauen sie
auf Sand. So sehr wir den guten Gedanken des Buches die weiteste Ver¬
breitung wünschen, so dringend müssen wir wünschen, daß die Herrschenden
das süße Opiat seiner Reichtumsstatistik, das sie mit Wollust schlürfen werden,
nicht ohne Gegengift einnehmen. Ein solches gedenken wir in einer Reihe von
Aufsätzen zu bereiten. Wir werden dabei im allgemeinen der Einteilung des
Buches folgen. (Die Überschriften seiner fünf Abschnitte lauten: 1. Eine Ge¬
schichte der sozialen Moral, gleichzeitig Geschichte der sozialen Grundrechte-
2. Das soziale Recht; moderner Standpunkt. 3/Kritik des Sozialismus.
4. Kritik der „kapitalistischen" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. 5. Ge¬
rechtigkeit.) Doch werden wir vorzugsweise bei den Abschnitten 3 und 4 ver¬
weilen und hie und da auch das für unsern Zweck zusammengehörige aus ver-
schiednen Abschnitten des Buches zusammenholen.

Der Verfasser ist „jedem Streit über Begriffe aus dem Wege gegangen."
Streiten wollen auch wir nicht, aber fo weit muß doch der Begriff berücksichtigt
werden, daß man sich mit dem Leser über die Bedeutung der zu gebrauchenden
Wörter verständigt, sonst schreibt man ins Blaue hinein. Nachdem der Ver¬
fasser die Nationalökonomie (er meint eigentlich die Nativnalvkonomik) richtig
definirt hat, erklärt er die Sozialpolitik für einen „Abschnitt" der praktischen
Nationalökonomie, nämlich für den, der sich mit der Güterverteilung zu be¬
schäftigen habe. Diese Begriffserklärung ist offenbar viel zu eng. Zwar aus
dem konfusen Geschwätz über Sozialpolitik, das seit einigen Jahren in Parla¬
menten, amtlichen Kundgebungen, Zeitungen. Vereinssitzungcn, Volksversamm¬
lungen, Schullehrcrkonferenzen und weiß Gott wo noch verführt wird, ist kein
Aufschluß über den Sinn des Wortes zu erlangen. Aber nachdem Schciffle
sein großes Werk über den Ban der Gesellschaft geschrieben, und nachdem sich
eine ganze Schule von Soziologen gebildet hat, darf man wohl die Soziologie
als die Lehre von dem Bau, den Lebensbedingungen und Lebensverrichtungen
der Gesellschaft bezeichnen. Die Sozialpolitik würde dann die Wissenschaft
von dem sein, was der Staat zu thun hat, um den Gesellschaftsbau lebendig
und in guter Gesundheit zu erhalten. Denn nicht um einen toten, sondern
um einen organischen Bau, um einen beseelten Leib handelt es sich, und daher
ist in dieser Wissenschaft zuerst nach der Gliederung des Gesellschaftsbaues
odervGesellschaftskörpers, oder vielmehr nach der Gliederung dieses Körpers,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/164>, abgerufen am 23.07.2024.