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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Publikum der Ferien, Bäder und Landstraßen sich selbst überläßt, daß sich
dann schon die Harmonie allmählich von selbst ergeben werde? In dem schönen
Augustmonat haben nicht weniger als 11500 Personen im städtischen Asyl
Berlins übernachtet, wieder eine ,.stattliche" Zahl! Wenn wir auf die Zahl
unsrer Asyle, Arbeitskvlonien, Herbergen und alle die Wvhlfnhrtsanstalten,
wozu in gewissem Sinne auch die Stadt- und Lnndarbeitshäuser und selbst
die Gefängnisse gehören, stolz sind, können wir auch auf die Zahl der Menschen,
die in ihnen Pension beziehen, stolz sein? Als ein wahres Glück muß es er¬
scheinen, daß wir unsre Kasernen haben, in denen unsre jungen Männer Ver¬
sorgung, Beschäftigung, Arbeit und Urlaub finden, denn man denke sich diese
Masse auf die Landstraße geworfen" -- was dann? Träte dieser Fall ein,
so würden die Schreckensbilder, die uns Gregorovius gezeichnet hat, fürchter¬
liche Wahrheit werden. Aber man wird hoffentlich nie vergessen, daß die eine
Masse nur durch die andre gebändigt werden kann.

Alle neuen Militürvvrlagen beschränken die Zahl der Wanderer auf der
Landstraße. Leider gilt für die sozialen Vorgänge bis zu einem gewissen
Grade das physikalische Gesetz vom Beharrungsvermögen, und so muß man
annehmen, daß weder die Bäder noch die Landstraßen den Höhepunkt ihrer
Blüte und ihrer Frequenz bereits erreicht haben. Ob wir im Reiche eine
Seuche beherberge" oder nicht, ob wir gute oder schlechte Ernten haben, die
Aufgabe, für die Massen im Winter, wenn die Landstraßen mit dem weißen
Linncntuch des nassen Schnees zugedeckt sind und unser hartes Klima reich¬
lichere Nahrung und Erwärmung fordert, so zu sorgen, daß kein offner Notstand
ans helle Tageslicht tritt, wird immer schwieriger und bedenklicher. In einem
Aufrufe eines sächsischen "Landesverbandes," der die Gründung von Verpfleg¬
stationen für mittellose Wanderer empfiehlt, heißt es: "Nachrichten aus allen
Teilen Dentschlands melden ein stetiges Anwachsen der Zahlen wandernder,
erwerbsloser Arbeiter. Es ist zu erwarten, daß sich diese Zahlen mit dem
Eintritte der rauhern Jahreszeit noch erheblich vergrößern werden. Damit
wird aber auch für das Publikum die Bettelplage und die allgemeine Un¬
sicherheit wachsen." Ach, solange noch die Besitzenden zum Sammeln und
Geben fähig und bereit sind, und solange sich noch die Besitzlosen mit den
Geschenken und der Mildthätigkeit und der Armenunterstützung begnügen, mag
der Lauf der Dinge ruhig so weiter gehen, mögen sich Sommer und Winter
ablösen wie bisher. Wie aber, wenn es einmal auf diese Weise nicht mehr
gehen wollte? Dann wird man sich hinterher fragen, wenn man klug geworden
ist: Wie kam es doch?




Publikum der Ferien, Bäder und Landstraßen sich selbst überläßt, daß sich
dann schon die Harmonie allmählich von selbst ergeben werde? In dem schönen
Augustmonat haben nicht weniger als 11500 Personen im städtischen Asyl
Berlins übernachtet, wieder eine ,.stattliche" Zahl! Wenn wir auf die Zahl
unsrer Asyle, Arbeitskvlonien, Herbergen und alle die Wvhlfnhrtsanstalten,
wozu in gewissem Sinne auch die Stadt- und Lnndarbeitshäuser und selbst
die Gefängnisse gehören, stolz sind, können wir auch auf die Zahl der Menschen,
die in ihnen Pension beziehen, stolz sein? Als ein wahres Glück muß es er¬
scheinen, daß wir unsre Kasernen haben, in denen unsre jungen Männer Ver¬
sorgung, Beschäftigung, Arbeit und Urlaub finden, denn man denke sich diese
Masse auf die Landstraße geworfen" — was dann? Träte dieser Fall ein,
so würden die Schreckensbilder, die uns Gregorovius gezeichnet hat, fürchter¬
liche Wahrheit werden. Aber man wird hoffentlich nie vergessen, daß die eine
Masse nur durch die andre gebändigt werden kann.

Alle neuen Militürvvrlagen beschränken die Zahl der Wanderer auf der
Landstraße. Leider gilt für die sozialen Vorgänge bis zu einem gewissen
Grade das physikalische Gesetz vom Beharrungsvermögen, und so muß man
annehmen, daß weder die Bäder noch die Landstraßen den Höhepunkt ihrer
Blüte und ihrer Frequenz bereits erreicht haben. Ob wir im Reiche eine
Seuche beherberge» oder nicht, ob wir gute oder schlechte Ernten haben, die
Aufgabe, für die Massen im Winter, wenn die Landstraßen mit dem weißen
Linncntuch des nassen Schnees zugedeckt sind und unser hartes Klima reich¬
lichere Nahrung und Erwärmung fordert, so zu sorgen, daß kein offner Notstand
ans helle Tageslicht tritt, wird immer schwieriger und bedenklicher. In einem
Aufrufe eines sächsischen „Landesverbandes," der die Gründung von Verpfleg¬
stationen für mittellose Wanderer empfiehlt, heißt es: „Nachrichten aus allen
Teilen Dentschlands melden ein stetiges Anwachsen der Zahlen wandernder,
erwerbsloser Arbeiter. Es ist zu erwarten, daß sich diese Zahlen mit dem
Eintritte der rauhern Jahreszeit noch erheblich vergrößern werden. Damit
wird aber auch für das Publikum die Bettelplage und die allgemeine Un¬
sicherheit wachsen." Ach, solange noch die Besitzenden zum Sammeln und
Geben fähig und bereit sind, und solange sich noch die Besitzlosen mit den
Geschenken und der Mildthätigkeit und der Armenunterstützung begnügen, mag
der Lauf der Dinge ruhig so weiter gehen, mögen sich Sommer und Winter
ablösen wie bisher. Wie aber, wenn es einmal auf diese Weise nicht mehr
gehen wollte? Dann wird man sich hinterher fragen, wenn man klug geworden
ist: Wie kam es doch?




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/144>, abgerufen am 23.07.2024.