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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ferien, Bäder uno Landstraße"

uns Lug und Trug vorspiegeln und uns und alle nur unglücklicher ge¬
macht haben?

Es ist grundfalsch, nur die Bäder, weil sie "fashivnabel" sind, für etwas
Hochmodernes zu halten, dagegen in den Landstraßen ein altes Erbstück zu
scheu, das in die Rumpelkammer gehört. Die Landstraßen sind so "hoch¬
modern" wie nur möglich. Freilich wenn die Kurgäste in den Bädern ge¬
mütlich in den Tag hineinleben, denken sie an ihre Feriengenvssen auf der
Landstraße nicht, obwohl sie sich sagen könnten, daß die einen es desto
schlechter haben müssen, je besser es die andern haben. Die einen leben in
Hülle und Fülle, in Saus und Braus, die andern eben darum von der Hand
in den Mund. In Ostende und seinesgleichen ergötzt man sich an dein
donnernden Getöse der Wogen und freut sich kindlich über einen prächtigen
kleinen Sturm; aber gegen das dumpfe Grollen in den Tiefen der mensch¬
lichen Gesellschaft ist man taub, und an einen möglichen Ausbruch des Vulkans
denkt man nicht.

Durch die Gesellschaft geht die bedenkliche Neigung, sich in zwei Klassen,
zwei feindliche Heerlager zu teilen und zu spalten, die sich nicht verstehen,
nicht zusammenkommen und sich nicht leide" können. Es ist keine reinliche
Scheidung, wenn in beiderseitiger Ausschließlichkeit die "Bourgeoisie" die Bäder
und das "Proletariat" die Landstraßen besetzt. Es ist nicht gut, auf die
lauten Wünsche der einen zärtlich Rücksicht zu nehmen, sich aber thatsächlich
oder scheinbar nur wenig darum zu kümmern, wie die andern denken und
suhlen, was sie erstreben und begehren, worauf sie hoffen, und worüber sie
klagen. Die Sozialpolitiker, von Jean Jacques Rousseau bis zu nicht und
zu Friedrich von Klinggräff, haben sich nicht gescheut, auf die staubige Land¬
straße hinauszugehen, um das Volk zu beobachten, zu fragen und zu versteh".
Zerfalle eine Nation, wie die Gefahr vorhanden ist, in zwei Teile, die sich
einander fremd werden und sich entzweien, so ist es, als ob zwei Pferde vor
einen Wagen gespannt würden, die durchaus nicht zusammen gehn wollen,
und dann kann sich leicht ein Unglück ereignen. Die Masse des Volkes muß
sich, wenn sie den Blick nach oben richtet, nicht durch eine unüberbrückbare
Kluft von dem Regiment der Herrschenden abgetrennt und losgerissen sühlen,
sondern sich ihm durch eine stufenweise abwärts reichende Gliederung und einen
vermittelnden Nährstand angeschlossen und verbunden fühlen. Wirtschaftliche
Kräftigung von vielen muß die Losung sein. Keine Macht der Erde kann
alles und jedes Landstraßenelend beseitigen, das ist auch nicht das Ziel, das
gegeben ist, das ist nicht der Inhalt eines durchführbaren Sozialismus, sondern
das Ziel ist Arbeit, Erholung und Zufriedenheit der obern Schichten des
"arbeitenden Volkes," das von dem Leben auf der Landstraße nichts wissen
will, sowie auskömmliche Existenz des Mittelstandes und des Beamtenheeres.
Glaubt man, daß, wenn man alles gehen läßt', wie es will, wenn man das


Ferien, Bäder uno Landstraße»

uns Lug und Trug vorspiegeln und uns und alle nur unglücklicher ge¬
macht haben?

Es ist grundfalsch, nur die Bäder, weil sie „fashivnabel" sind, für etwas
Hochmodernes zu halten, dagegen in den Landstraßen ein altes Erbstück zu
scheu, das in die Rumpelkammer gehört. Die Landstraßen sind so „hoch¬
modern" wie nur möglich. Freilich wenn die Kurgäste in den Bädern ge¬
mütlich in den Tag hineinleben, denken sie an ihre Feriengenvssen auf der
Landstraße nicht, obwohl sie sich sagen könnten, daß die einen es desto
schlechter haben müssen, je besser es die andern haben. Die einen leben in
Hülle und Fülle, in Saus und Braus, die andern eben darum von der Hand
in den Mund. In Ostende und seinesgleichen ergötzt man sich an dein
donnernden Getöse der Wogen und freut sich kindlich über einen prächtigen
kleinen Sturm; aber gegen das dumpfe Grollen in den Tiefen der mensch¬
lichen Gesellschaft ist man taub, und an einen möglichen Ausbruch des Vulkans
denkt man nicht.

Durch die Gesellschaft geht die bedenkliche Neigung, sich in zwei Klassen,
zwei feindliche Heerlager zu teilen und zu spalten, die sich nicht verstehen,
nicht zusammenkommen und sich nicht leide« können. Es ist keine reinliche
Scheidung, wenn in beiderseitiger Ausschließlichkeit die „Bourgeoisie" die Bäder
und das „Proletariat" die Landstraßen besetzt. Es ist nicht gut, auf die
lauten Wünsche der einen zärtlich Rücksicht zu nehmen, sich aber thatsächlich
oder scheinbar nur wenig darum zu kümmern, wie die andern denken und
suhlen, was sie erstreben und begehren, worauf sie hoffen, und worüber sie
klagen. Die Sozialpolitiker, von Jean Jacques Rousseau bis zu nicht und
zu Friedrich von Klinggräff, haben sich nicht gescheut, auf die staubige Land¬
straße hinauszugehen, um das Volk zu beobachten, zu fragen und zu versteh«.
Zerfalle eine Nation, wie die Gefahr vorhanden ist, in zwei Teile, die sich
einander fremd werden und sich entzweien, so ist es, als ob zwei Pferde vor
einen Wagen gespannt würden, die durchaus nicht zusammen gehn wollen,
und dann kann sich leicht ein Unglück ereignen. Die Masse des Volkes muß
sich, wenn sie den Blick nach oben richtet, nicht durch eine unüberbrückbare
Kluft von dem Regiment der Herrschenden abgetrennt und losgerissen sühlen,
sondern sich ihm durch eine stufenweise abwärts reichende Gliederung und einen
vermittelnden Nährstand angeschlossen und verbunden fühlen. Wirtschaftliche
Kräftigung von vielen muß die Losung sein. Keine Macht der Erde kann
alles und jedes Landstraßenelend beseitigen, das ist auch nicht das Ziel, das
gegeben ist, das ist nicht der Inhalt eines durchführbaren Sozialismus, sondern
das Ziel ist Arbeit, Erholung und Zufriedenheit der obern Schichten des
„arbeitenden Volkes," das von dem Leben auf der Landstraße nichts wissen
will, sowie auskömmliche Existenz des Mittelstandes und des Beamtenheeres.
Glaubt man, daß, wenn man alles gehen läßt', wie es will, wenn man das


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[0143] Ferien, Bäder uno Landstraße» uns Lug und Trug vorspiegeln und uns und alle nur unglücklicher ge¬ macht haben? Es ist grundfalsch, nur die Bäder, weil sie „fashivnabel" sind, für etwas Hochmodernes zu halten, dagegen in den Landstraßen ein altes Erbstück zu scheu, das in die Rumpelkammer gehört. Die Landstraßen sind so „hoch¬ modern" wie nur möglich. Freilich wenn die Kurgäste in den Bädern ge¬ mütlich in den Tag hineinleben, denken sie an ihre Feriengenvssen auf der Landstraße nicht, obwohl sie sich sagen könnten, daß die einen es desto schlechter haben müssen, je besser es die andern haben. Die einen leben in Hülle und Fülle, in Saus und Braus, die andern eben darum von der Hand in den Mund. In Ostende und seinesgleichen ergötzt man sich an dein donnernden Getöse der Wogen und freut sich kindlich über einen prächtigen kleinen Sturm; aber gegen das dumpfe Grollen in den Tiefen der mensch¬ lichen Gesellschaft ist man taub, und an einen möglichen Ausbruch des Vulkans denkt man nicht. Durch die Gesellschaft geht die bedenkliche Neigung, sich in zwei Klassen, zwei feindliche Heerlager zu teilen und zu spalten, die sich nicht verstehen, nicht zusammenkommen und sich nicht leide« können. Es ist keine reinliche Scheidung, wenn in beiderseitiger Ausschließlichkeit die „Bourgeoisie" die Bäder und das „Proletariat" die Landstraßen besetzt. Es ist nicht gut, auf die lauten Wünsche der einen zärtlich Rücksicht zu nehmen, sich aber thatsächlich oder scheinbar nur wenig darum zu kümmern, wie die andern denken und suhlen, was sie erstreben und begehren, worauf sie hoffen, und worüber sie klagen. Die Sozialpolitiker, von Jean Jacques Rousseau bis zu nicht und zu Friedrich von Klinggräff, haben sich nicht gescheut, auf die staubige Land¬ straße hinauszugehen, um das Volk zu beobachten, zu fragen und zu versteh«. Zerfalle eine Nation, wie die Gefahr vorhanden ist, in zwei Teile, die sich einander fremd werden und sich entzweien, so ist es, als ob zwei Pferde vor einen Wagen gespannt würden, die durchaus nicht zusammen gehn wollen, und dann kann sich leicht ein Unglück ereignen. Die Masse des Volkes muß sich, wenn sie den Blick nach oben richtet, nicht durch eine unüberbrückbare Kluft von dem Regiment der Herrschenden abgetrennt und losgerissen sühlen, sondern sich ihm durch eine stufenweise abwärts reichende Gliederung und einen vermittelnden Nährstand angeschlossen und verbunden fühlen. Wirtschaftliche Kräftigung von vielen muß die Losung sein. Keine Macht der Erde kann alles und jedes Landstraßenelend beseitigen, das ist auch nicht das Ziel, das gegeben ist, das ist nicht der Inhalt eines durchführbaren Sozialismus, sondern das Ziel ist Arbeit, Erholung und Zufriedenheit der obern Schichten des „arbeitenden Volkes," das von dem Leben auf der Landstraße nichts wissen will, sowie auskömmliche Existenz des Mittelstandes und des Beamtenheeres. Glaubt man, daß, wenn man alles gehen läßt', wie es will, wenn man das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/143>, abgerufen am 23.07.2024.