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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ferien, Bäder und Landstraßen

durch Addireu auf den Grund kommen können? Aber nehmt euch nnr in Acht,
dnß ihr recht vollständig und wissenschaftlich verfährt, daß ihr nichts vergeßt
und überschlägt!

Man sollte glauben, daß in einer Zeit, wo die Eisenbahnen den größten
Teil des Personen- und Warenverkehrs^ vermitteln, wo alles womöglich mit
Dampf und Maschinen getrieben wird, wo sich die städtische Bevölkerung im
Verhältnis zur ländlichen ganz außerordentlich vermehrt, wo die Städter im
Sommer scharenweise in die Bäder ziehen, um dort die Wohnräume in den
Häusern und Gastwirtschaften von der Diele bis zum Dach mit Beschlag zu
belegen, daß in einer solchen Zeit die alten guten Landstraßen veraltet und
verödet sein müßten. Einige Gegenden müssen natürlich ausgenommen werden,
die im Sommer von Schwärmen von Touristen überfallen zu werden pflegen.
Aber trotz alles Touristentums liegt uns die Zeit doch recht fern, wo der
brave Seume, um billig nach Shrakus zu kommen, "spazierengehen" mußte;
der Unterschied zwischen Seume und uns ist, berlinerisch, weltstädtisch ge¬
sprochen, "Pyramidal." Heute würde man sich einfach ans die Bahn begeben,
den Eilzug besteigen, sich in eine Ecke des engen "Wagenabteil" drücken und
drauf losfahren, wobei mau sich im stillen ärgert, daß es nicht schneller geht,
bis man dann mit Befriedigung vernimmt, daß man da ist, wohin man wollte.
Wer irgend kann, benntzt zum Reisen die Eisenbahn, wenn es auch in der
vollgepfropften vierten Klasse eines "entsetzlichen" Bummelzuges wäre, und
die Sozialdemokraten sollen Sonntags schon Rciseagitatvren geeignete Strecken
hin und her befahren lassen, um durch Verteilen von Zeitungen während der
Fahrt "das Volk aufzuklären." Dennoch irrt mau sich, wenn mau meint, die
langen nach Maeadams Art gepflasterten Straßen oder Chausseen, auf deren
Erfindung man sich im, Anfang unsers Jahrhunderts so viel zu gute that,
wären wenig oder gar nicht mehr belebt. Da man unter "Verkehr" nicht den
Verkehr der Landstraßen mehr zu verstehen Pflegt, da man unter "Reisen"
nicht mehr das Reisen auf Schusters Rappen und unter "Reisenden" nicht die
"reisenden Handwerksburschen" meint, so lau" man leicht zu dem Glauben ver¬
leitet werden, die Landstraßen brauchten nicht mehr mitgezählt zu werden.
Weit gefehlt! Die Landstraßen haben ihr Stammpublikum, ihren täglichen
Durchgangsverkehr, ihre "Saison" so gut wie unsre Bäder, ziehen im Sommer
die "Fremden" an und werden im Winter hauptsächlich von den seßhaften
"Eingebornen" benutzt. Allerdings trotz aller Verührnngs- und Bergleichnngs-
Puutte trennt ein riesiger Abstand die Bäder und ihre Gesellschaft von den
Landstraßen und ihren Wanderern; wie fein trifft ihn die Sprache: ins Bad
"begiebt man sich," auf die Landstraße "wird man geworfen." Geworfen!

Die großen Landstraßen, die Heerstraßen, die große Städte mit einander
verbinden, haben, gleichviel ob sie landschaftlich schöne oder einförmige Ge¬
genden durchschneiden, eine Sommerfrequenz, die sich der unsrer großen Bäder


Ferien, Bäder und Landstraßen

durch Addireu auf den Grund kommen können? Aber nehmt euch nnr in Acht,
dnß ihr recht vollständig und wissenschaftlich verfährt, daß ihr nichts vergeßt
und überschlägt!

Man sollte glauben, daß in einer Zeit, wo die Eisenbahnen den größten
Teil des Personen- und Warenverkehrs^ vermitteln, wo alles womöglich mit
Dampf und Maschinen getrieben wird, wo sich die städtische Bevölkerung im
Verhältnis zur ländlichen ganz außerordentlich vermehrt, wo die Städter im
Sommer scharenweise in die Bäder ziehen, um dort die Wohnräume in den
Häusern und Gastwirtschaften von der Diele bis zum Dach mit Beschlag zu
belegen, daß in einer solchen Zeit die alten guten Landstraßen veraltet und
verödet sein müßten. Einige Gegenden müssen natürlich ausgenommen werden,
die im Sommer von Schwärmen von Touristen überfallen zu werden pflegen.
Aber trotz alles Touristentums liegt uns die Zeit doch recht fern, wo der
brave Seume, um billig nach Shrakus zu kommen, „spazierengehen" mußte;
der Unterschied zwischen Seume und uns ist, berlinerisch, weltstädtisch ge¬
sprochen, „Pyramidal." Heute würde man sich einfach ans die Bahn begeben,
den Eilzug besteigen, sich in eine Ecke des engen „Wagenabteil" drücken und
drauf losfahren, wobei mau sich im stillen ärgert, daß es nicht schneller geht,
bis man dann mit Befriedigung vernimmt, daß man da ist, wohin man wollte.
Wer irgend kann, benntzt zum Reisen die Eisenbahn, wenn es auch in der
vollgepfropften vierten Klasse eines „entsetzlichen" Bummelzuges wäre, und
die Sozialdemokraten sollen Sonntags schon Rciseagitatvren geeignete Strecken
hin und her befahren lassen, um durch Verteilen von Zeitungen während der
Fahrt „das Volk aufzuklären." Dennoch irrt mau sich, wenn mau meint, die
langen nach Maeadams Art gepflasterten Straßen oder Chausseen, auf deren
Erfindung man sich im, Anfang unsers Jahrhunderts so viel zu gute that,
wären wenig oder gar nicht mehr belebt. Da man unter „Verkehr" nicht den
Verkehr der Landstraßen mehr zu verstehen Pflegt, da man unter „Reisen"
nicht mehr das Reisen auf Schusters Rappen und unter „Reisenden" nicht die
„reisenden Handwerksburschen" meint, so lau» man leicht zu dem Glauben ver¬
leitet werden, die Landstraßen brauchten nicht mehr mitgezählt zu werden.
Weit gefehlt! Die Landstraßen haben ihr Stammpublikum, ihren täglichen
Durchgangsverkehr, ihre „Saison" so gut wie unsre Bäder, ziehen im Sommer
die „Fremden" an und werden im Winter hauptsächlich von den seßhaften
„Eingebornen" benutzt. Allerdings trotz aller Verührnngs- und Bergleichnngs-
Puutte trennt ein riesiger Abstand die Bäder und ihre Gesellschaft von den
Landstraßen und ihren Wanderern; wie fein trifft ihn die Sprache: ins Bad
„begiebt man sich," auf die Landstraße „wird man geworfen." Geworfen!

Die großen Landstraßen, die Heerstraßen, die große Städte mit einander
verbinden, haben, gleichviel ob sie landschaftlich schöne oder einförmige Ge¬
genden durchschneiden, eine Sommerfrequenz, die sich der unsrer großen Bäder


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[0139] Ferien, Bäder und Landstraßen durch Addireu auf den Grund kommen können? Aber nehmt euch nnr in Acht, dnß ihr recht vollständig und wissenschaftlich verfährt, daß ihr nichts vergeßt und überschlägt! Man sollte glauben, daß in einer Zeit, wo die Eisenbahnen den größten Teil des Personen- und Warenverkehrs^ vermitteln, wo alles womöglich mit Dampf und Maschinen getrieben wird, wo sich die städtische Bevölkerung im Verhältnis zur ländlichen ganz außerordentlich vermehrt, wo die Städter im Sommer scharenweise in die Bäder ziehen, um dort die Wohnräume in den Häusern und Gastwirtschaften von der Diele bis zum Dach mit Beschlag zu belegen, daß in einer solchen Zeit die alten guten Landstraßen veraltet und verödet sein müßten. Einige Gegenden müssen natürlich ausgenommen werden, die im Sommer von Schwärmen von Touristen überfallen zu werden pflegen. Aber trotz alles Touristentums liegt uns die Zeit doch recht fern, wo der brave Seume, um billig nach Shrakus zu kommen, „spazierengehen" mußte; der Unterschied zwischen Seume und uns ist, berlinerisch, weltstädtisch ge¬ sprochen, „Pyramidal." Heute würde man sich einfach ans die Bahn begeben, den Eilzug besteigen, sich in eine Ecke des engen „Wagenabteil" drücken und drauf losfahren, wobei mau sich im stillen ärgert, daß es nicht schneller geht, bis man dann mit Befriedigung vernimmt, daß man da ist, wohin man wollte. Wer irgend kann, benntzt zum Reisen die Eisenbahn, wenn es auch in der vollgepfropften vierten Klasse eines „entsetzlichen" Bummelzuges wäre, und die Sozialdemokraten sollen Sonntags schon Rciseagitatvren geeignete Strecken hin und her befahren lassen, um durch Verteilen von Zeitungen während der Fahrt „das Volk aufzuklären." Dennoch irrt mau sich, wenn mau meint, die langen nach Maeadams Art gepflasterten Straßen oder Chausseen, auf deren Erfindung man sich im, Anfang unsers Jahrhunderts so viel zu gute that, wären wenig oder gar nicht mehr belebt. Da man unter „Verkehr" nicht den Verkehr der Landstraßen mehr zu verstehen Pflegt, da man unter „Reisen" nicht mehr das Reisen auf Schusters Rappen und unter „Reisenden" nicht die „reisenden Handwerksburschen" meint, so lau» man leicht zu dem Glauben ver¬ leitet werden, die Landstraßen brauchten nicht mehr mitgezählt zu werden. Weit gefehlt! Die Landstraßen haben ihr Stammpublikum, ihren täglichen Durchgangsverkehr, ihre „Saison" so gut wie unsre Bäder, ziehen im Sommer die „Fremden" an und werden im Winter hauptsächlich von den seßhaften „Eingebornen" benutzt. Allerdings trotz aller Verührnngs- und Bergleichnngs- Puutte trennt ein riesiger Abstand die Bäder und ihre Gesellschaft von den Landstraßen und ihren Wanderern; wie fein trifft ihn die Sprache: ins Bad „begiebt man sich," auf die Landstraße „wird man geworfen." Geworfen! Die großen Landstraßen, die Heerstraßen, die große Städte mit einander verbinden, haben, gleichviel ob sie landschaftlich schöne oder einförmige Ge¬ genden durchschneiden, eine Sommerfrequenz, die sich der unsrer großen Bäder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/139>, abgerufen am 25.08.2024.