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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ferien, Bäder und Landstraßen

der Kapitalismus und Sozialismus sind geradezu die großen Zahlen. Das
neunzehnte Jahrhundert huldigt überall dem Götzendienst der Masse, der Mehr¬
heiten und betet die eindrucksvoller mehr- und vierteiligen Ziffern an. In
jedem Lehrbuch der Erdkunde findet sich' schon eine hübsche Rangordnung der
Länder und Städte nach der Zahl ihrer Einwohner, an der Spitze die Millioneu-
staaten und -Städte, unten an die kleinern und zugleich geringern und unbedeu¬
tendem mit bloßen Hunderttausenden und endlich Tausenden. Der Lieblings¬
sport der Zeit ist Zählen und immer wieder Zählen, und die modernen
Menschen siud von dem wunderlichsten Stolz auf die Zahl beseelt. Wie ist
alles bei einer Ncichstagswahl aus dem Häuschen, wie emsig wird gerechnet
und gezählt, und gezählt und gerechnet, wie schreien die Parteien ihre Stimmen
in die Welt hinaus, und wie sehr weiß die Sozialdemokratie mit den Arbeiter-
batcnllvuen, die sie aufmarschieren läßt, und mit den Mandaten, die sie zu
erobern droht, zu renommiren! An den Stolz heftet sich die Angst, atrg. "uiÄ,
vor einem möglichen Stillstande oder Rückgange. Ängstlich wachen die Par¬
teien über ihre Stimmen-, die Zeitungen über ihre Abonnenten-, die Städte
über ihre Einwohner- und die Bäder über ihre Fremdeuzahl. Denn im all¬
gemeinen haben die großen Zahlen den größten Zulauf, die Zahlen bestechen
und berücken die Herzen der Menschen, bewegen sie zum Abonnement auf die
Zeitung, zum Anschluß an die Partei, zur Übersiedlung in die Stadt und
zum Besuch des Bades. Deshalb wird in den Bädern während der Saison
mit unablässigem Eifer gezahlt, die Badedirektion zählt, die Badezeitungen
zählen, die Wirte und Gäste, die Eingebornen und Fremden -- alle zählen.
Jeder, der sich im Bade blicken läßt, wird gebucht, sein Name prangt in der
"Kurliste," in der das jeweilige Fazit aller Namen unter der Bezeichnung
"Gesamtfrequenz" gezogen wird, und das ist eine Zahl von ungemeiner Wich¬
tigkeit, weil sich in ihr der Gang des Geschäfts, die Anziehungskraft des Ortes,
die Zu- oder Abneigung der Mode und der öffentlichen Meinung, kurz, der
Ruf und der Kredit "exakt" wiederspiegeln. Die Zahl spielt sür die Bäder
dieselbe Rolle, die sie in unserm ganzen öffentlichen Leben spielt. Es muß
ein Geheimnis in diesen großen Zahlen stecken, ein Geheimnis, wie man es in
den Pyramiden der alten Ägypter hat entdecken wollen; man stellt heute Zahl
zu Zahl, wie die Ägypter auf Geheiß ihrer Pharaonen Stein auf Stein legten.
Welches Leben muß der Neubau einer Riesenpyramidc in der leeren Wüste
hervorgebracht haben, und welches Lebe" wird heute aus dem Boden gezaubert,
wenn auf einer öden, sandigen Nordseeinsel ein Aktienbad gegründet wird!
So zählt denn und zählt! Zählt immer zu die Bewohner der Städte und die
Besucher der Bäder, die Anhänger der Parteien und die Soldaten der stehenden
Heere, die Leute mit einem Einkommen unter und über zweitausend Mark,
zählt die Opfer der Kriege, der Unfälle und der Cholera, und, wenn ihr könnt,
zählt die Vazillen; warum solltet ihr dem großen Geheimnis des Seins nicht


Ferien, Bäder und Landstraßen

der Kapitalismus und Sozialismus sind geradezu die großen Zahlen. Das
neunzehnte Jahrhundert huldigt überall dem Götzendienst der Masse, der Mehr¬
heiten und betet die eindrucksvoller mehr- und vierteiligen Ziffern an. In
jedem Lehrbuch der Erdkunde findet sich' schon eine hübsche Rangordnung der
Länder und Städte nach der Zahl ihrer Einwohner, an der Spitze die Millioneu-
staaten und -Städte, unten an die kleinern und zugleich geringern und unbedeu¬
tendem mit bloßen Hunderttausenden und endlich Tausenden. Der Lieblings¬
sport der Zeit ist Zählen und immer wieder Zählen, und die modernen
Menschen siud von dem wunderlichsten Stolz auf die Zahl beseelt. Wie ist
alles bei einer Ncichstagswahl aus dem Häuschen, wie emsig wird gerechnet
und gezählt, und gezählt und gerechnet, wie schreien die Parteien ihre Stimmen
in die Welt hinaus, und wie sehr weiß die Sozialdemokratie mit den Arbeiter-
batcnllvuen, die sie aufmarschieren läßt, und mit den Mandaten, die sie zu
erobern droht, zu renommiren! An den Stolz heftet sich die Angst, atrg. «uiÄ,
vor einem möglichen Stillstande oder Rückgange. Ängstlich wachen die Par¬
teien über ihre Stimmen-, die Zeitungen über ihre Abonnenten-, die Städte
über ihre Einwohner- und die Bäder über ihre Fremdeuzahl. Denn im all¬
gemeinen haben die großen Zahlen den größten Zulauf, die Zahlen bestechen
und berücken die Herzen der Menschen, bewegen sie zum Abonnement auf die
Zeitung, zum Anschluß an die Partei, zur Übersiedlung in die Stadt und
zum Besuch des Bades. Deshalb wird in den Bädern während der Saison
mit unablässigem Eifer gezahlt, die Badedirektion zählt, die Badezeitungen
zählen, die Wirte und Gäste, die Eingebornen und Fremden — alle zählen.
Jeder, der sich im Bade blicken läßt, wird gebucht, sein Name prangt in der
„Kurliste," in der das jeweilige Fazit aller Namen unter der Bezeichnung
„Gesamtfrequenz" gezogen wird, und das ist eine Zahl von ungemeiner Wich¬
tigkeit, weil sich in ihr der Gang des Geschäfts, die Anziehungskraft des Ortes,
die Zu- oder Abneigung der Mode und der öffentlichen Meinung, kurz, der
Ruf und der Kredit „exakt" wiederspiegeln. Die Zahl spielt sür die Bäder
dieselbe Rolle, die sie in unserm ganzen öffentlichen Leben spielt. Es muß
ein Geheimnis in diesen großen Zahlen stecken, ein Geheimnis, wie man es in
den Pyramiden der alten Ägypter hat entdecken wollen; man stellt heute Zahl
zu Zahl, wie die Ägypter auf Geheiß ihrer Pharaonen Stein auf Stein legten.
Welches Leben muß der Neubau einer Riesenpyramidc in der leeren Wüste
hervorgebracht haben, und welches Lebe» wird heute aus dem Boden gezaubert,
wenn auf einer öden, sandigen Nordseeinsel ein Aktienbad gegründet wird!
So zählt denn und zählt! Zählt immer zu die Bewohner der Städte und die
Besucher der Bäder, die Anhänger der Parteien und die Soldaten der stehenden
Heere, die Leute mit einem Einkommen unter und über zweitausend Mark,
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zählt die Vazillen; warum solltet ihr dem großen Geheimnis des Seins nicht


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[0138] Ferien, Bäder und Landstraßen der Kapitalismus und Sozialismus sind geradezu die großen Zahlen. Das neunzehnte Jahrhundert huldigt überall dem Götzendienst der Masse, der Mehr¬ heiten und betet die eindrucksvoller mehr- und vierteiligen Ziffern an. In jedem Lehrbuch der Erdkunde findet sich' schon eine hübsche Rangordnung der Länder und Städte nach der Zahl ihrer Einwohner, an der Spitze die Millioneu- staaten und -Städte, unten an die kleinern und zugleich geringern und unbedeu¬ tendem mit bloßen Hunderttausenden und endlich Tausenden. Der Lieblings¬ sport der Zeit ist Zählen und immer wieder Zählen, und die modernen Menschen siud von dem wunderlichsten Stolz auf die Zahl beseelt. Wie ist alles bei einer Ncichstagswahl aus dem Häuschen, wie emsig wird gerechnet und gezählt, und gezählt und gerechnet, wie schreien die Parteien ihre Stimmen in die Welt hinaus, und wie sehr weiß die Sozialdemokratie mit den Arbeiter- batcnllvuen, die sie aufmarschieren läßt, und mit den Mandaten, die sie zu erobern droht, zu renommiren! An den Stolz heftet sich die Angst, atrg. «uiÄ, vor einem möglichen Stillstande oder Rückgange. Ängstlich wachen die Par¬ teien über ihre Stimmen-, die Zeitungen über ihre Abonnenten-, die Städte über ihre Einwohner- und die Bäder über ihre Fremdeuzahl. Denn im all¬ gemeinen haben die großen Zahlen den größten Zulauf, die Zahlen bestechen und berücken die Herzen der Menschen, bewegen sie zum Abonnement auf die Zeitung, zum Anschluß an die Partei, zur Übersiedlung in die Stadt und zum Besuch des Bades. Deshalb wird in den Bädern während der Saison mit unablässigem Eifer gezahlt, die Badedirektion zählt, die Badezeitungen zählen, die Wirte und Gäste, die Eingebornen und Fremden — alle zählen. Jeder, der sich im Bade blicken läßt, wird gebucht, sein Name prangt in der „Kurliste," in der das jeweilige Fazit aller Namen unter der Bezeichnung „Gesamtfrequenz" gezogen wird, und das ist eine Zahl von ungemeiner Wich¬ tigkeit, weil sich in ihr der Gang des Geschäfts, die Anziehungskraft des Ortes, die Zu- oder Abneigung der Mode und der öffentlichen Meinung, kurz, der Ruf und der Kredit „exakt" wiederspiegeln. Die Zahl spielt sür die Bäder dieselbe Rolle, die sie in unserm ganzen öffentlichen Leben spielt. Es muß ein Geheimnis in diesen großen Zahlen stecken, ein Geheimnis, wie man es in den Pyramiden der alten Ägypter hat entdecken wollen; man stellt heute Zahl zu Zahl, wie die Ägypter auf Geheiß ihrer Pharaonen Stein auf Stein legten. Welches Leben muß der Neubau einer Riesenpyramidc in der leeren Wüste hervorgebracht haben, und welches Lebe» wird heute aus dem Boden gezaubert, wenn auf einer öden, sandigen Nordseeinsel ein Aktienbad gegründet wird! So zählt denn und zählt! Zählt immer zu die Bewohner der Städte und die Besucher der Bäder, die Anhänger der Parteien und die Soldaten der stehenden Heere, die Leute mit einem Einkommen unter und über zweitausend Mark, zählt die Opfer der Kriege, der Unfälle und der Cholera, und, wenn ihr könnt, zählt die Vazillen; warum solltet ihr dem großen Geheimnis des Seins nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/138>, abgerufen am 23.07.2024.