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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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wundes Ethik

die Summe aller oder möglichst vieler Einzelwvhlfnhrten, "och unter dem all¬
gemeinen Fortschritt der Fortschritt möglichst vieler Menschen verstanden werden
dürfe. "Je mehr extensives Gluck eine Handlung hervorbringt, je mehr sich
in ihr das bewußte Streben verrät, den Einzelwillen dem Gesamtwillen unterzu¬
ordnen flucht dem Gesamtwillen, sondern dem Gesamtwvhl; einen Gesamtwilleu
giebt es gar nicht, wenn man darunter nicht etwa den Willen Gottes versteht,
der das Gesamtwvhl will^, um so höher steht sie allerdings in unserm sitt¬
lichen Urteil; dieses ist aber mir unter der Voraussetzung verständlich, daß
das Glück einzelner, mögen es deren noch so viele sein, nicht der letzte Zweck,
sondern nur Mittel zur Erreichung weiter zurückliegender und allgemeinerer
Zwecke sei." Wir unserseits brauchen diese Voraussetzung nicht, um zu ver¬
stehen, daß eine Handlung um so sittlicher sei, je mehr sie das Streben verrät,
dem Gemeinwohl zu dienen, sondern bleiben mit Lotze dabei, daß nichts wirk¬
lich ist in der Welt, außer dein persönlichen Geiste. Wir bestreikn daher die
Behauptung Wundes, zu sittlichen Gütern könnten mir "letzte Zwecke" erhoben
werden, und solche letzte Zwecke könnten daher "nur in der Hervorbringung
geistiger Schöpfungen bestehen, an denen zwar das Eiuzelbewußtsein teilnimmt,
deren Zweckvbjekt aber nicht der einzelne selbst, sondern der allgemeine Geist
der Menschheit ist." Wir bestreikn entschieden, daß sich Wunde selbst oder
irgend jemand in der Welt unter dein "allgemeinen Geist der Menschheit"
etwas zu denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erHabe"
sein, wie sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von
Einzelgeistern, sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit
deu Einzelgeistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir
uns, daß alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom
LvrpnL M'iL, oder von unserm Uufallversicheruugsgesetz in einem verschüttete"
Keller lägen und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese
geistigen Schöpfungen einfach nicht mehr vorhanden oder nur uoch potentiell
vorhanden," bis vielleicht ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dnsein, d. h.
zum Dasein in Jndividnalgeistern erweckte. Seite 523 definirt Wunde: "Sitt¬
lich ist der Wille dem Effekt nach, so lauge sein Handeln dem Gesamtwillen
konform ist, der Gesinnung nach, so lange die Motive, die ihn bestimmen,
mit den Zwecken des Gesamtwillens übereinstimmen." Die erste Hälfte der
Definition ist richtig, wenn wir statt des Undinges "Gesamtwillen" nach alter
Anschauung "Gottes Willen" setzen. Wir brauchen, um die Unmöglichkeit des
Begriffes "Gesnmtwillen" einzusehen, nicht einmal bis zu den Chinesen und
Papuas zu gehen; wir können im deutschet, Reiche bleiben und fragen, welche
von unsern Parteien berufen sein sollen, den Gesamtwillen zu bilden. Oder
will man sie alle zulassen? Dann dürfte sich aus " und -- :>, Null er¬
geben. Die zweite Hälfte der Definition aber halten wir für falsch, da ja
die Zwecke des "Gesamtwillens" bekannt sein müßte", wen" die Überein-


wundes Ethik

die Summe aller oder möglichst vieler Einzelwvhlfnhrten, »och unter dem all¬
gemeinen Fortschritt der Fortschritt möglichst vieler Menschen verstanden werden
dürfe. „Je mehr extensives Gluck eine Handlung hervorbringt, je mehr sich
in ihr das bewußte Streben verrät, den Einzelwillen dem Gesamtwillen unterzu¬
ordnen flucht dem Gesamtwillen, sondern dem Gesamtwvhl; einen Gesamtwilleu
giebt es gar nicht, wenn man darunter nicht etwa den Willen Gottes versteht,
der das Gesamtwvhl will^, um so höher steht sie allerdings in unserm sitt¬
lichen Urteil; dieses ist aber mir unter der Voraussetzung verständlich, daß
das Glück einzelner, mögen es deren noch so viele sein, nicht der letzte Zweck,
sondern nur Mittel zur Erreichung weiter zurückliegender und allgemeinerer
Zwecke sei." Wir unserseits brauchen diese Voraussetzung nicht, um zu ver¬
stehen, daß eine Handlung um so sittlicher sei, je mehr sie das Streben verrät,
dem Gemeinwohl zu dienen, sondern bleiben mit Lotze dabei, daß nichts wirk¬
lich ist in der Welt, außer dein persönlichen Geiste. Wir bestreikn daher die
Behauptung Wundes, zu sittlichen Gütern könnten mir „letzte Zwecke" erhoben
werden, und solche letzte Zwecke könnten daher „nur in der Hervorbringung
geistiger Schöpfungen bestehen, an denen zwar das Eiuzelbewußtsein teilnimmt,
deren Zweckvbjekt aber nicht der einzelne selbst, sondern der allgemeine Geist
der Menschheit ist." Wir bestreikn entschieden, daß sich Wunde selbst oder
irgend jemand in der Welt unter dein „allgemeinen Geist der Menschheit"
etwas zu denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erHabe»
sein, wie sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von
Einzelgeistern, sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit
deu Einzelgeistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir
uns, daß alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom
LvrpnL M'iL, oder von unserm Uufallversicheruugsgesetz in einem verschüttete»
Keller lägen und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese
geistigen Schöpfungen einfach nicht mehr vorhanden oder nur uoch potentiell
vorhanden," bis vielleicht ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dnsein, d. h.
zum Dasein in Jndividnalgeistern erweckte. Seite 523 definirt Wunde: „Sitt¬
lich ist der Wille dem Effekt nach, so lauge sein Handeln dem Gesamtwillen
konform ist, der Gesinnung nach, so lange die Motive, die ihn bestimmen,
mit den Zwecken des Gesamtwillens übereinstimmen." Die erste Hälfte der
Definition ist richtig, wenn wir statt des Undinges „Gesamtwillen" nach alter
Anschauung „Gottes Willen" setzen. Wir brauchen, um die Unmöglichkeit des
Begriffes „Gesnmtwillen" einzusehen, nicht einmal bis zu den Chinesen und
Papuas zu gehen; wir können im deutschet, Reiche bleiben und fragen, welche
von unsern Parteien berufen sein sollen, den Gesamtwillen zu bilden. Oder
will man sie alle zulassen? Dann dürfte sich aus » und — :>, Null er¬
geben. Die zweite Hälfte der Definition aber halten wir für falsch, da ja
die Zwecke des „Gesamtwillens" bekannt sein müßte», wen» die Überein-


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[0117] wundes Ethik die Summe aller oder möglichst vieler Einzelwvhlfnhrten, »och unter dem all¬ gemeinen Fortschritt der Fortschritt möglichst vieler Menschen verstanden werden dürfe. „Je mehr extensives Gluck eine Handlung hervorbringt, je mehr sich in ihr das bewußte Streben verrät, den Einzelwillen dem Gesamtwillen unterzu¬ ordnen flucht dem Gesamtwillen, sondern dem Gesamtwvhl; einen Gesamtwilleu giebt es gar nicht, wenn man darunter nicht etwa den Willen Gottes versteht, der das Gesamtwvhl will^, um so höher steht sie allerdings in unserm sitt¬ lichen Urteil; dieses ist aber mir unter der Voraussetzung verständlich, daß das Glück einzelner, mögen es deren noch so viele sein, nicht der letzte Zweck, sondern nur Mittel zur Erreichung weiter zurückliegender und allgemeinerer Zwecke sei." Wir unserseits brauchen diese Voraussetzung nicht, um zu ver¬ stehen, daß eine Handlung um so sittlicher sei, je mehr sie das Streben verrät, dem Gemeinwohl zu dienen, sondern bleiben mit Lotze dabei, daß nichts wirk¬ lich ist in der Welt, außer dein persönlichen Geiste. Wir bestreikn daher die Behauptung Wundes, zu sittlichen Gütern könnten mir „letzte Zwecke" erhoben werden, und solche letzte Zwecke könnten daher „nur in der Hervorbringung geistiger Schöpfungen bestehen, an denen zwar das Eiuzelbewußtsein teilnimmt, deren Zweckvbjekt aber nicht der einzelne selbst, sondern der allgemeine Geist der Menschheit ist." Wir bestreikn entschieden, daß sich Wunde selbst oder irgend jemand in der Welt unter dein „allgemeinen Geist der Menschheit" etwas zu denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erHabe» sein, wie sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von Einzelgeistern, sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit deu Einzelgeistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir uns, daß alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom LvrpnL M'iL, oder von unserm Uufallversicheruugsgesetz in einem verschüttete» Keller lägen und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese geistigen Schöpfungen einfach nicht mehr vorhanden oder nur uoch potentiell vorhanden," bis vielleicht ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dnsein, d. h. zum Dasein in Jndividnalgeistern erweckte. Seite 523 definirt Wunde: „Sitt¬ lich ist der Wille dem Effekt nach, so lauge sein Handeln dem Gesamtwillen konform ist, der Gesinnung nach, so lange die Motive, die ihn bestimmen, mit den Zwecken des Gesamtwillens übereinstimmen." Die erste Hälfte der Definition ist richtig, wenn wir statt des Undinges „Gesamtwillen" nach alter Anschauung „Gottes Willen" setzen. Wir brauchen, um die Unmöglichkeit des Begriffes „Gesnmtwillen" einzusehen, nicht einmal bis zu den Chinesen und Papuas zu gehen; wir können im deutschet, Reiche bleiben und fragen, welche von unsern Parteien berufen sein sollen, den Gesamtwillen zu bilden. Oder will man sie alle zulassen? Dann dürfte sich aus » und — :>, Null er¬ geben. Die zweite Hälfte der Definition aber halten wir für falsch, da ja die Zwecke des „Gesamtwillens" bekannt sein müßte», wen» die Überein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/117>, abgerufen am 25.08.2024.