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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Dynamik

wieder auf. Vor diesen unersetzlichen Verlusten hat sich jedes Volk möglichst
zu schützen.

In früherer Zeit haben durch Mißregieruug, durch Hunger, durch reli¬
giösen Wahn erregte Volksmassen gemordet, gebräunt, große Verwüstungen
angerichtet. Es hat soziale Erhebungen gegeben, in denen die mißhandelten
Bauern sich zusamiuenthaten, um die Schlösser zu brechen, um Städte einzu¬
äschern zur Befriedigung ihrer Rache für erlittnes Unrecht. Aber es hat,
wenigstens in Europa, noch keine Zeit wie die unsre gegeben, wo, ohne die
Erhitzung des Blutes durch revolutionäre Erhebung, in so weiten Kreisen des
niedern Volkes die Zerstörung dessen, was wir als Errungenschaften unsrer
Kultur verehren, zum Ziele kühl denkender, planvoll handelnder Verbindungen
gemacht wird. Ja mehr noch: was jederzeit für Verbrechen galt, wird von
vielen Tausenden offen sür Wohlthat erklärt, von Millionen mit moralischer
Duldung angesehen; grundsätzlich, in sittlichem Vewußtseiu werden Mord und
Verwüstung gepredigt und ausgeführt. Vielleicht ließen sich in dem China
des elften Jahrhunderts ähnliche Zustände wiederfinden, wie die sind, zu denen
die heutige soziale Strömung in Europa hintreibt. Wenigstens wird erzählt,
daß damals die sozialistische Idee bis zur Verstaatlichung von Grund und
Boden, Handel, Gewerbe durchgeführt wordeu sei, wodurch dann das Land
ruinirt wurde. Aber es hieße Perlen vor die Säue werfen, wenn man mit
Lehren der Geschichte gegenüber Volksbewegungen kämpfen wollte, die sich von
dem allgemeinen sittlichen Boden alles Kulturlebens offen lossagen, indem sie
das persönliche Eigentum für ein Unrecht erklären und dann im Kampfe gegen
dieses Unrecht zur Rechtfertigung der Zerstörung von Eigentum und Leben
der Besitzenden gelangen, indem sie bestehendes Recht zum Verbrechen und
das Verbrechen zum Recht machen. Mag das Streben der untern Volksklassen
nach Besserung der Lebenslage noch so sehr gebilligt werden, so kann doch
nimmer als richtiger Weg zu diesem Ziele der Umsturz der ersten Grundlagen
alles gesitteten Volkslebens angesehen werden. Hier muß das Prinzip fest¬
gehalten werden, oder es giebt in aller Welt kein Prinzip. Der heutige
Anarchismus sagt sich offen los vom staatlichen Gesetz: der Staat hätte also
wohl ein formelles Recht, das Gesetz ihm gegenüber außer Geltung zu setzen --
es wäre das mir logisch. Wer sich vom Staat und von seinem Rechte
lossagt, der darf auch nicht mehr auf den Schutz des Staats Anspruch machen:
streng genommen müßte er vogelfrei sein. Doch fordert die staatliche Moral,
daß über die strenge Logik des Rechts hinaus auf die Leidenschaft des ein¬
zelnem wie der Massen Rücksicht genommen werde; und hier ist Leidenschaft,
nicht Vernunft, hier ist, wenigstens bei der großen Masse der Anarchisten,
rohes Wollen, nicht geordnetes Denken. Schwer ist es, im einzelnen die
Richtschnur anzugeben, nach der der Staat seine Abwehr gegen diesen offnen
Feind zu treffen hat. Wie bei offnem Aufruhr der Unschuldige mit dem


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wieder auf. Vor diesen unersetzlichen Verlusten hat sich jedes Volk möglichst
zu schützen.

In früherer Zeit haben durch Mißregieruug, durch Hunger, durch reli¬
giösen Wahn erregte Volksmassen gemordet, gebräunt, große Verwüstungen
angerichtet. Es hat soziale Erhebungen gegeben, in denen die mißhandelten
Bauern sich zusamiuenthaten, um die Schlösser zu brechen, um Städte einzu¬
äschern zur Befriedigung ihrer Rache für erlittnes Unrecht. Aber es hat,
wenigstens in Europa, noch keine Zeit wie die unsre gegeben, wo, ohne die
Erhitzung des Blutes durch revolutionäre Erhebung, in so weiten Kreisen des
niedern Volkes die Zerstörung dessen, was wir als Errungenschaften unsrer
Kultur verehren, zum Ziele kühl denkender, planvoll handelnder Verbindungen
gemacht wird. Ja mehr noch: was jederzeit für Verbrechen galt, wird von
vielen Tausenden offen sür Wohlthat erklärt, von Millionen mit moralischer
Duldung angesehen; grundsätzlich, in sittlichem Vewußtseiu werden Mord und
Verwüstung gepredigt und ausgeführt. Vielleicht ließen sich in dem China
des elften Jahrhunderts ähnliche Zustände wiederfinden, wie die sind, zu denen
die heutige soziale Strömung in Europa hintreibt. Wenigstens wird erzählt,
daß damals die sozialistische Idee bis zur Verstaatlichung von Grund und
Boden, Handel, Gewerbe durchgeführt wordeu sei, wodurch dann das Land
ruinirt wurde. Aber es hieße Perlen vor die Säue werfen, wenn man mit
Lehren der Geschichte gegenüber Volksbewegungen kämpfen wollte, die sich von
dem allgemeinen sittlichen Boden alles Kulturlebens offen lossagen, indem sie
das persönliche Eigentum für ein Unrecht erklären und dann im Kampfe gegen
dieses Unrecht zur Rechtfertigung der Zerstörung von Eigentum und Leben
der Besitzenden gelangen, indem sie bestehendes Recht zum Verbrechen und
das Verbrechen zum Recht machen. Mag das Streben der untern Volksklassen
nach Besserung der Lebenslage noch so sehr gebilligt werden, so kann doch
nimmer als richtiger Weg zu diesem Ziele der Umsturz der ersten Grundlagen
alles gesitteten Volkslebens angesehen werden. Hier muß das Prinzip fest¬
gehalten werden, oder es giebt in aller Welt kein Prinzip. Der heutige
Anarchismus sagt sich offen los vom staatlichen Gesetz: der Staat hätte also
wohl ein formelles Recht, das Gesetz ihm gegenüber außer Geltung zu setzen —
es wäre das mir logisch. Wer sich vom Staat und von seinem Rechte
lossagt, der darf auch nicht mehr auf den Schutz des Staats Anspruch machen:
streng genommen müßte er vogelfrei sein. Doch fordert die staatliche Moral,
daß über die strenge Logik des Rechts hinaus auf die Leidenschaft des ein¬
zelnem wie der Massen Rücksicht genommen werde; und hier ist Leidenschaft,
nicht Vernunft, hier ist, wenigstens bei der großen Masse der Anarchisten,
rohes Wollen, nicht geordnetes Denken. Schwer ist es, im einzelnen die
Richtschnur anzugeben, nach der der Staat seine Abwehr gegen diesen offnen
Feind zu treffen hat. Wie bei offnem Aufruhr der Unschuldige mit dem


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[0066] Dynamik wieder auf. Vor diesen unersetzlichen Verlusten hat sich jedes Volk möglichst zu schützen. In früherer Zeit haben durch Mißregieruug, durch Hunger, durch reli¬ giösen Wahn erregte Volksmassen gemordet, gebräunt, große Verwüstungen angerichtet. Es hat soziale Erhebungen gegeben, in denen die mißhandelten Bauern sich zusamiuenthaten, um die Schlösser zu brechen, um Städte einzu¬ äschern zur Befriedigung ihrer Rache für erlittnes Unrecht. Aber es hat, wenigstens in Europa, noch keine Zeit wie die unsre gegeben, wo, ohne die Erhitzung des Blutes durch revolutionäre Erhebung, in so weiten Kreisen des niedern Volkes die Zerstörung dessen, was wir als Errungenschaften unsrer Kultur verehren, zum Ziele kühl denkender, planvoll handelnder Verbindungen gemacht wird. Ja mehr noch: was jederzeit für Verbrechen galt, wird von vielen Tausenden offen sür Wohlthat erklärt, von Millionen mit moralischer Duldung angesehen; grundsätzlich, in sittlichem Vewußtseiu werden Mord und Verwüstung gepredigt und ausgeführt. Vielleicht ließen sich in dem China des elften Jahrhunderts ähnliche Zustände wiederfinden, wie die sind, zu denen die heutige soziale Strömung in Europa hintreibt. Wenigstens wird erzählt, daß damals die sozialistische Idee bis zur Verstaatlichung von Grund und Boden, Handel, Gewerbe durchgeführt wordeu sei, wodurch dann das Land ruinirt wurde. Aber es hieße Perlen vor die Säue werfen, wenn man mit Lehren der Geschichte gegenüber Volksbewegungen kämpfen wollte, die sich von dem allgemeinen sittlichen Boden alles Kulturlebens offen lossagen, indem sie das persönliche Eigentum für ein Unrecht erklären und dann im Kampfe gegen dieses Unrecht zur Rechtfertigung der Zerstörung von Eigentum und Leben der Besitzenden gelangen, indem sie bestehendes Recht zum Verbrechen und das Verbrechen zum Recht machen. Mag das Streben der untern Volksklassen nach Besserung der Lebenslage noch so sehr gebilligt werden, so kann doch nimmer als richtiger Weg zu diesem Ziele der Umsturz der ersten Grundlagen alles gesitteten Volkslebens angesehen werden. Hier muß das Prinzip fest¬ gehalten werden, oder es giebt in aller Welt kein Prinzip. Der heutige Anarchismus sagt sich offen los vom staatlichen Gesetz: der Staat hätte also wohl ein formelles Recht, das Gesetz ihm gegenüber außer Geltung zu setzen — es wäre das mir logisch. Wer sich vom Staat und von seinem Rechte lossagt, der darf auch nicht mehr auf den Schutz des Staats Anspruch machen: streng genommen müßte er vogelfrei sein. Doch fordert die staatliche Moral, daß über die strenge Logik des Rechts hinaus auf die Leidenschaft des ein¬ zelnem wie der Massen Rücksicht genommen werde; und hier ist Leidenschaft, nicht Vernunft, hier ist, wenigstens bei der großen Masse der Anarchisten, rohes Wollen, nicht geordnetes Denken. Schwer ist es, im einzelnen die Richtschnur anzugeben, nach der der Staat seine Abwehr gegen diesen offnen Feind zu treffen hat. Wie bei offnem Aufruhr der Unschuldige mit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/66>, abgerufen am 08.01.2025.