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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Aber selbst zugegeben, Billet sei ein unwürdiges Fremdwort, glaubt man
denn vielleicht, Karte sei ein deutsches Wort? Karte ist nicht um ein Haar
deutscher als Villet. Wenn der "Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen"
dem zusammengestellten Fahrscheinheft -- jetzt schreibe ichs einmal ohne Gänse¬
füßchen, denn jetzt meine ich die Sache, nicht den Namen -- hätte einen
Namen geben wollen, so hätte ers z. B. "Rundbuch" oder, da ja die "zu¬
sammengestellte" Reise jetzt keine Rundreise mehr zu sein braucht, "Fahrbuch"
nennen können -- das wäre allenfalls ein Name; aber "zusammengestelltes
Fahrscheinheft" ist kein Name, es ist eine mühselige, umständliche Begriffs¬
bestimmung. Tisch und Stuhl, Rock und Hemd, Fleisch und Brot -- das
sind Namen. Wenn ich aber sür Stuhl sagte: "vierbeiniges, mit einer Lehne
verfehltes Sitzbrete," so würde diese Bezeichnung mit dem "zusammengesetzten
Fahrscheinheft" ungefähr auf einer Stufe stehn.

Aber der Titel ist ja schließlich eine Äußerlichkeit. Viel schlimmer steht
es mit den "Beförderungsbedingungen," die auf den folgenden drei Seiten des
Umschlags abgedruckt sind. Diese elf Paragraphen bilden ein so abschreckendes
Beispiel von Amtsdeutsch, daß es der Mühe lohnt, sie sich einmal näher ein-
zusehn. Es ist in der letzten Zeit schon viel geklagt worden über Kanzleistil,
Juristendeutsch, Amtssprache u. tgi. Aber es ist vielleicht gut und lehrreicher,
als alle allgemeinen Deklamationen, einmal an einem kleinen, engbegrenzten
und dabei allbekannten Beispiel zu zeigen, wie geschrieben wird und doch nicht
geschrieben werden sollte.

Die beiden Haupteigenschaften des Kanzleistils sind bekanntlich Gespreizt¬
heit und Aufgeblasenheit auf der einen, Breite und Weitschweifigkeit auf der
andern Seite. Die eine ist die Folge davon, daß sich der Bureaumcnsch, anch
der subalternste -- der erst recht! --, stets für hoch erhaben über das Publikum
hält und dieser Erhabenheit, wo der Inhalt seiner Borschriften nicht dazu an¬
gethan ist, wenigstens in der Form, in der Sprache Ausdruck zu geben sucht;
die andre ist die Folge davon, daß der Gesetzmacher stets alle seine Mit¬
menschen entweder für Dummköpfe oder für Schurken hält und deshalb be¬
müht ist, bei den einen, den Dummköpfen, ein nnabsichtliches, bei den andern,
den Schurken, ein absichtliches Mißverständnis seiner Vorschriften zu verhüten.")
Kommt noch dazu, wie so oft, natürliches Ungeschick, so entsteht dann jene
Ausdrucksweise, in der der größte Teil unsrer heutigen Gesetze, Verordnungen,
Bekanntmachungen, Statuten u. s. w- abgefaßt ist. Auch an den nachfolgenden



In einer großen Kurbadeanstalt studirte ich einmal in meiner Zelle die Borschristen
über die Benutzung des Bades, die auf Pappe gezogen an der Thür hinge". Als ich glücklich
fertig und beim letzten Paragraphen angekommen war, sah ich zu meinem Schrecken, daß
dieser die Bestimmung enthielt, daß sich kein Badegast länger als drei Viertelstunde" in der
Zelle aufhalten dürfe. Über dem Studium der Vorschriften war aber schon ziemlich eine
Viertelstunde verflösse"!

Aber selbst zugegeben, Billet sei ein unwürdiges Fremdwort, glaubt man
denn vielleicht, Karte sei ein deutsches Wort? Karte ist nicht um ein Haar
deutscher als Villet. Wenn der „Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen"
dem zusammengestellten Fahrscheinheft — jetzt schreibe ichs einmal ohne Gänse¬
füßchen, denn jetzt meine ich die Sache, nicht den Namen — hätte einen
Namen geben wollen, so hätte ers z. B. „Rundbuch" oder, da ja die „zu¬
sammengestellte" Reise jetzt keine Rundreise mehr zu sein braucht, „Fahrbuch"
nennen können — das wäre allenfalls ein Name; aber „zusammengestelltes
Fahrscheinheft" ist kein Name, es ist eine mühselige, umständliche Begriffs¬
bestimmung. Tisch und Stuhl, Rock und Hemd, Fleisch und Brot — das
sind Namen. Wenn ich aber sür Stuhl sagte: „vierbeiniges, mit einer Lehne
verfehltes Sitzbrete," so würde diese Bezeichnung mit dem „zusammengesetzten
Fahrscheinheft" ungefähr auf einer Stufe stehn.

Aber der Titel ist ja schließlich eine Äußerlichkeit. Viel schlimmer steht
es mit den „Beförderungsbedingungen," die auf den folgenden drei Seiten des
Umschlags abgedruckt sind. Diese elf Paragraphen bilden ein so abschreckendes
Beispiel von Amtsdeutsch, daß es der Mühe lohnt, sie sich einmal näher ein-
zusehn. Es ist in der letzten Zeit schon viel geklagt worden über Kanzleistil,
Juristendeutsch, Amtssprache u. tgi. Aber es ist vielleicht gut und lehrreicher,
als alle allgemeinen Deklamationen, einmal an einem kleinen, engbegrenzten
und dabei allbekannten Beispiel zu zeigen, wie geschrieben wird und doch nicht
geschrieben werden sollte.

Die beiden Haupteigenschaften des Kanzleistils sind bekanntlich Gespreizt¬
heit und Aufgeblasenheit auf der einen, Breite und Weitschweifigkeit auf der
andern Seite. Die eine ist die Folge davon, daß sich der Bureaumcnsch, anch
der subalternste — der erst recht! —, stets für hoch erhaben über das Publikum
hält und dieser Erhabenheit, wo der Inhalt seiner Borschriften nicht dazu an¬
gethan ist, wenigstens in der Form, in der Sprache Ausdruck zu geben sucht;
die andre ist die Folge davon, daß der Gesetzmacher stets alle seine Mit¬
menschen entweder für Dummköpfe oder für Schurken hält und deshalb be¬
müht ist, bei den einen, den Dummköpfen, ein nnabsichtliches, bei den andern,
den Schurken, ein absichtliches Mißverständnis seiner Vorschriften zu verhüten.")
Kommt noch dazu, wie so oft, natürliches Ungeschick, so entsteht dann jene
Ausdrucksweise, in der der größte Teil unsrer heutigen Gesetze, Verordnungen,
Bekanntmachungen, Statuten u. s. w- abgefaßt ist. Auch an den nachfolgenden



In einer großen Kurbadeanstalt studirte ich einmal in meiner Zelle die Borschristen
über die Benutzung des Bades, die auf Pappe gezogen an der Thür hinge». Als ich glücklich
fertig und beim letzten Paragraphen angekommen war, sah ich zu meinem Schrecken, daß
dieser die Bestimmung enthielt, daß sich kein Badegast länger als drei Viertelstunde» in der
Zelle aufhalten dürfe. Über dem Studium der Vorschriften war aber schon ziemlich eine
Viertelstunde verflösse»!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/605>, abgerufen am 08.01.2025.