Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reise ins Kloster

kommen und sogar den Hut vor unserm Vater abnehmen zu sehen. Und
dieser Enttäuschung folgte sofort eine zweite: unser Vater hatte wohl Extra-
Post bestellt, sie war aber nicht da, und wir mußten warten. So etwas kam
zu damaliger Zeit öfter vor, und die großen Leute hatten sich schon längst
eine gewisse Resignation deshalb zugelegt. Vater zog also ein Buch aus seiner
Reisetasche und setzte sich auf einen großen Stein am Wasser. Wir aber blickten
sehnsüchtig hinüber nach unsrer Heimatinsel. Auf dem blauen Wasser fuhr
Ricks mit einem großen Segelboote und "blinkerte" Dorsch; wir aber saßen
auf dein Festlande und fühlten uns verlassen. Wir hatten zuerst das Fähr¬
haus durchstreift, aber außer Tausenden von Fliegen nichts sehenswertes
gefunden, dann waren wir im Pferdestall gewesen, ohne auch da etwas besondres
zu entdecken, und nun saßen wir am Wasser.

Jürgen sagte, er Hütte schon immer gesagt, daß er nicht mitreisen möchte:
er wolle nicht ins Kloster, da sei es so langweilig; er wolle sein Taschentuch
an die Flaggenstange binden, dann käme Ricks und holte ihn. Ich erwiderte,
dann wollte ich auch mit. In diesem Augenblicke rief uns unser Vater. Er
hatte einen großen Teller mit Butterbrot vor sich stehen, auch etliche Gläser
voll Milch; dieser Anblick verbesserte unsre Stimmung, und als der Teller
leer war, hatten wir schon wieder so viel Reisemut, daß wir in lautes Freuden¬
geschrei ausbrachen, als sich die Extrapost endlich einstellte.

Sehr langsam ging es nun vorwärts, die Wege waren sandig, und der
Wagen schaukelte beständig. Gottlob, daß es eine offne Halbchaise war, und
so ging die Reise wenigstens ohne betrübende Zwischenfälle von statten. Nur
daß wir heute nicht mehr ins Kloster kommen konnten, sondern unterwegs
übernachten mußten, eine Nachricht, die uns sehr überaschend kam und uns
mit mannichfachen Befürchtungen erfüllte.

Giebt es wohl in Holstein Räuber? fragten wir unsern Vater, der beim
Beantworten unsrer Fragen eine rührende Geduld an den Tag zu legen
pflegte. Er verneinte entschieden; aber wir wurden doch sehr nachdenklich.
Unser Großvater hatte als Student einmal ein Abenteuer mit Räubern in
einem Wirtshause gehabt, und wenn er diese Geschichte erzählte, setzte er stets
hinzu, man dürfe nie in einem fremden Wirtshause übernachten. Und nun
sollten wir das heute thun! Jürgen und ich flüsterten viel mit einander, während
sich Vater allerlei vom Kutscher erzählen ließ. Es gab eine Geschichte -- wer
hatte sie uns doch erzählt? -- von einem Himmelbett, worin man, nachdem
man eingeschlafen war, vom Betthimmel wie ein Pfannkuchen plattgedrückt
wurde. Also für Himmelbetten dankten wir. Oder es kamen Diebe in das
Schlafzimmer und nahmen einem alles weg, vielleicht sogar das Leben, wenn
man aufwachte. Also man durfte nicht aufwachen; man mußte laut und tief
atmen, am liebsten schnarchen, um die Menschen sicher zu machen. Wir übten
uns also im Schnarchen, und dabei schliefen wir wirklich ein.


Grenzboten III 1892 71
Die Reise ins Kloster

kommen und sogar den Hut vor unserm Vater abnehmen zu sehen. Und
dieser Enttäuschung folgte sofort eine zweite: unser Vater hatte wohl Extra-
Post bestellt, sie war aber nicht da, und wir mußten warten. So etwas kam
zu damaliger Zeit öfter vor, und die großen Leute hatten sich schon längst
eine gewisse Resignation deshalb zugelegt. Vater zog also ein Buch aus seiner
Reisetasche und setzte sich auf einen großen Stein am Wasser. Wir aber blickten
sehnsüchtig hinüber nach unsrer Heimatinsel. Auf dem blauen Wasser fuhr
Ricks mit einem großen Segelboote und „blinkerte" Dorsch; wir aber saßen
auf dein Festlande und fühlten uns verlassen. Wir hatten zuerst das Fähr¬
haus durchstreift, aber außer Tausenden von Fliegen nichts sehenswertes
gefunden, dann waren wir im Pferdestall gewesen, ohne auch da etwas besondres
zu entdecken, und nun saßen wir am Wasser.

Jürgen sagte, er Hütte schon immer gesagt, daß er nicht mitreisen möchte:
er wolle nicht ins Kloster, da sei es so langweilig; er wolle sein Taschentuch
an die Flaggenstange binden, dann käme Ricks und holte ihn. Ich erwiderte,
dann wollte ich auch mit. In diesem Augenblicke rief uns unser Vater. Er
hatte einen großen Teller mit Butterbrot vor sich stehen, auch etliche Gläser
voll Milch; dieser Anblick verbesserte unsre Stimmung, und als der Teller
leer war, hatten wir schon wieder so viel Reisemut, daß wir in lautes Freuden¬
geschrei ausbrachen, als sich die Extrapost endlich einstellte.

Sehr langsam ging es nun vorwärts, die Wege waren sandig, und der
Wagen schaukelte beständig. Gottlob, daß es eine offne Halbchaise war, und
so ging die Reise wenigstens ohne betrübende Zwischenfälle von statten. Nur
daß wir heute nicht mehr ins Kloster kommen konnten, sondern unterwegs
übernachten mußten, eine Nachricht, die uns sehr überaschend kam und uns
mit mannichfachen Befürchtungen erfüllte.

Giebt es wohl in Holstein Räuber? fragten wir unsern Vater, der beim
Beantworten unsrer Fragen eine rührende Geduld an den Tag zu legen
pflegte. Er verneinte entschieden; aber wir wurden doch sehr nachdenklich.
Unser Großvater hatte als Student einmal ein Abenteuer mit Räubern in
einem Wirtshause gehabt, und wenn er diese Geschichte erzählte, setzte er stets
hinzu, man dürfe nie in einem fremden Wirtshause übernachten. Und nun
sollten wir das heute thun! Jürgen und ich flüsterten viel mit einander, während
sich Vater allerlei vom Kutscher erzählen ließ. Es gab eine Geschichte — wer
hatte sie uns doch erzählt? — von einem Himmelbett, worin man, nachdem
man eingeschlafen war, vom Betthimmel wie ein Pfannkuchen plattgedrückt
wurde. Also für Himmelbetten dankten wir. Oder es kamen Diebe in das
Schlafzimmer und nahmen einem alles weg, vielleicht sogar das Leben, wenn
man aufwachte. Also man durfte nicht aufwachen; man mußte laut und tief
atmen, am liebsten schnarchen, um die Menschen sicher zu machen. Wir übten
uns also im Schnarchen, und dabei schliefen wir wirklich ein.


Grenzboten III 1892 71
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0569" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213045"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reise ins Kloster</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1881" prev="#ID_1880"> kommen und sogar den Hut vor unserm Vater abnehmen zu sehen. Und<lb/>
dieser Enttäuschung folgte sofort eine zweite: unser Vater hatte wohl Extra-<lb/>
Post bestellt, sie war aber nicht da, und wir mußten warten. So etwas kam<lb/>
zu damaliger Zeit öfter vor, und die großen Leute hatten sich schon längst<lb/>
eine gewisse Resignation deshalb zugelegt. Vater zog also ein Buch aus seiner<lb/>
Reisetasche und setzte sich auf einen großen Stein am Wasser. Wir aber blickten<lb/>
sehnsüchtig hinüber nach unsrer Heimatinsel. Auf dem blauen Wasser fuhr<lb/>
Ricks mit einem großen Segelboote und &#x201E;blinkerte" Dorsch; wir aber saßen<lb/>
auf dein Festlande und fühlten uns verlassen. Wir hatten zuerst das Fähr¬<lb/>
haus durchstreift, aber außer Tausenden von Fliegen nichts sehenswertes<lb/>
gefunden, dann waren wir im Pferdestall gewesen, ohne auch da etwas besondres<lb/>
zu entdecken, und nun saßen wir am Wasser.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1882"> Jürgen sagte, er Hütte schon immer gesagt, daß er nicht mitreisen möchte:<lb/>
er wolle nicht ins Kloster, da sei es so langweilig; er wolle sein Taschentuch<lb/>
an die Flaggenstange binden, dann käme Ricks und holte ihn. Ich erwiderte,<lb/>
dann wollte ich auch mit. In diesem Augenblicke rief uns unser Vater. Er<lb/>
hatte einen großen Teller mit Butterbrot vor sich stehen, auch etliche Gläser<lb/>
voll Milch; dieser Anblick verbesserte unsre Stimmung, und als der Teller<lb/>
leer war, hatten wir schon wieder so viel Reisemut, daß wir in lautes Freuden¬<lb/>
geschrei ausbrachen, als sich die Extrapost endlich einstellte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1883"> Sehr langsam ging es nun vorwärts, die Wege waren sandig, und der<lb/>
Wagen schaukelte beständig. Gottlob, daß es eine offne Halbchaise war, und<lb/>
so ging die Reise wenigstens ohne betrübende Zwischenfälle von statten. Nur<lb/>
daß wir heute nicht mehr ins Kloster kommen konnten, sondern unterwegs<lb/>
übernachten mußten, eine Nachricht, die uns sehr überaschend kam und uns<lb/>
mit mannichfachen Befürchtungen erfüllte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1884"> Giebt es wohl in Holstein Räuber? fragten wir unsern Vater, der beim<lb/>
Beantworten unsrer Fragen eine rührende Geduld an den Tag zu legen<lb/>
pflegte. Er verneinte entschieden; aber wir wurden doch sehr nachdenklich.<lb/>
Unser Großvater hatte als Student einmal ein Abenteuer mit Räubern in<lb/>
einem Wirtshause gehabt, und wenn er diese Geschichte erzählte, setzte er stets<lb/>
hinzu, man dürfe nie in einem fremden Wirtshause übernachten. Und nun<lb/>
sollten wir das heute thun! Jürgen und ich flüsterten viel mit einander, während<lb/>
sich Vater allerlei vom Kutscher erzählen ließ. Es gab eine Geschichte &#x2014; wer<lb/>
hatte sie uns doch erzählt? &#x2014; von einem Himmelbett, worin man, nachdem<lb/>
man eingeschlafen war, vom Betthimmel wie ein Pfannkuchen plattgedrückt<lb/>
wurde. Also für Himmelbetten dankten wir. Oder es kamen Diebe in das<lb/>
Schlafzimmer und nahmen einem alles weg, vielleicht sogar das Leben, wenn<lb/>
man aufwachte. Also man durfte nicht aufwachen; man mußte laut und tief<lb/>
atmen, am liebsten schnarchen, um die Menschen sicher zu machen. Wir übten<lb/>
uns also im Schnarchen, und dabei schliefen wir wirklich ein.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1892 71</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0569] Die Reise ins Kloster kommen und sogar den Hut vor unserm Vater abnehmen zu sehen. Und dieser Enttäuschung folgte sofort eine zweite: unser Vater hatte wohl Extra- Post bestellt, sie war aber nicht da, und wir mußten warten. So etwas kam zu damaliger Zeit öfter vor, und die großen Leute hatten sich schon längst eine gewisse Resignation deshalb zugelegt. Vater zog also ein Buch aus seiner Reisetasche und setzte sich auf einen großen Stein am Wasser. Wir aber blickten sehnsüchtig hinüber nach unsrer Heimatinsel. Auf dem blauen Wasser fuhr Ricks mit einem großen Segelboote und „blinkerte" Dorsch; wir aber saßen auf dein Festlande und fühlten uns verlassen. Wir hatten zuerst das Fähr¬ haus durchstreift, aber außer Tausenden von Fliegen nichts sehenswertes gefunden, dann waren wir im Pferdestall gewesen, ohne auch da etwas besondres zu entdecken, und nun saßen wir am Wasser. Jürgen sagte, er Hütte schon immer gesagt, daß er nicht mitreisen möchte: er wolle nicht ins Kloster, da sei es so langweilig; er wolle sein Taschentuch an die Flaggenstange binden, dann käme Ricks und holte ihn. Ich erwiderte, dann wollte ich auch mit. In diesem Augenblicke rief uns unser Vater. Er hatte einen großen Teller mit Butterbrot vor sich stehen, auch etliche Gläser voll Milch; dieser Anblick verbesserte unsre Stimmung, und als der Teller leer war, hatten wir schon wieder so viel Reisemut, daß wir in lautes Freuden¬ geschrei ausbrachen, als sich die Extrapost endlich einstellte. Sehr langsam ging es nun vorwärts, die Wege waren sandig, und der Wagen schaukelte beständig. Gottlob, daß es eine offne Halbchaise war, und so ging die Reise wenigstens ohne betrübende Zwischenfälle von statten. Nur daß wir heute nicht mehr ins Kloster kommen konnten, sondern unterwegs übernachten mußten, eine Nachricht, die uns sehr überaschend kam und uns mit mannichfachen Befürchtungen erfüllte. Giebt es wohl in Holstein Räuber? fragten wir unsern Vater, der beim Beantworten unsrer Fragen eine rührende Geduld an den Tag zu legen pflegte. Er verneinte entschieden; aber wir wurden doch sehr nachdenklich. Unser Großvater hatte als Student einmal ein Abenteuer mit Räubern in einem Wirtshause gehabt, und wenn er diese Geschichte erzählte, setzte er stets hinzu, man dürfe nie in einem fremden Wirtshause übernachten. Und nun sollten wir das heute thun! Jürgen und ich flüsterten viel mit einander, während sich Vater allerlei vom Kutscher erzählen ließ. Es gab eine Geschichte — wer hatte sie uns doch erzählt? — von einem Himmelbett, worin man, nachdem man eingeschlafen war, vom Betthimmel wie ein Pfannkuchen plattgedrückt wurde. Also für Himmelbetten dankten wir. Oder es kamen Diebe in das Schlafzimmer und nahmen einem alles weg, vielleicht sogar das Leben, wenn man aufwachte. Also man durfte nicht aufwachen; man mußte laut und tief atmen, am liebsten schnarchen, um die Menschen sicher zu machen. Wir übten uns also im Schnarchen, und dabei schliefen wir wirklich ein. Grenzboten III 1892 71

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/569
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/569>, abgerufen am 09.01.2025.