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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

Brust trug er zwei schneeweiße Läppchen. Und ein bitter ernstes Gesicht
machte er. Gravitätisch stieg er die weichen Stufen zu seiner Kanzel empor.
Ein Kommandoruf, ein Trommelwirbel, und heilige Stille herrschte.

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes begann
der Prediger, und ich machte unwillkürlich das Kreuzzeichen. Er selber vergaß
es, wie ich im ersten Augenblick bei mir dachte. Aber langsamer, schöner,
andächtiger, unendlich viel feierlicher sprach er die Worte als unser Pfarrer
Bartholomes. Noch salbungsvoller sprach er das Vaterunser. Noch nie hatte
ich das Gebet des Herrn in so ergreifender Weise beten hören; ein heiliger
Schauer durchrieselte mich. Das Beten des Pfarrers Bartholomes war ein
lumpiges Herunterleiern dagegen. Nur eins kam mir komisch vor, daß der
Mann nicht Vater unser, sondern unser Vater sagte, und lebhaft bedauerte ich,
dnß der, der so schön betete, auch das "Gegrüßet seist du, Maria" vergaß, das
ich gar zu gern auch von ihm gehört hätte, weil es mich fast noch schöner
deuchte als das Vaterunser.

Nach dem Gebet erscholl die Musik und mit ihr lauter, weithin haltender
Gesang, dann begann die Predigt. Noch heute weiß ich den Anfang ganz
genau, und ich werde ihn auch nie vergessen. Es waren die Worte der
Schrift: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht
meine Wege, sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde --" Mehr
hörte ich nicht. Da geschah ein Krachen, ein Aufschreien in der Luft und
auf der Erde, ein Gedränge, ein Tumult. Der Hauptast des Weichsel-
bnums, auf dem ich mit vier andern meinen Sitz erwählt hatte, war gebrochen
und samt seiner fünffachen lebendigen Last auf die Köpfe der unterstehenden
dicht gedrängten Volksmasse gefallen. Es dauerte eine Weile, ehe der Pre¬
diger von neuem beginnen konnte.

Über diesen Zwischenfall wurde in der Folge viel gelacht, und noch heute
wird er in Hinterwinkel oft erzählt. Die so erschreckenden und vielfach ver¬
wirrenden und verbitternden Ereignisse jenes Jahres, die ersten Stürme und
Gewitterschauer des bald darauf anbrechenden politischen Frühlings der
deutschen Nation, sie find heute in Hinterwinkel so gut wie vergessen. Wenn
wem ihrer noch gedenkt, so geschieht es fast nur in Verbindung mit der Ge¬
schichte des Weichselbaums, die eiuer dem andern ins Gedächtnis zurückruft.
Auch das Andenken des Lienhard Neichenbühler ist tot wie er selber; niemand
weint mehr um ihn. Über den gebrochnen Weichselbaum aber lacht man noch,
Ulan wird vielleicht noch darüber lachen, wenn die Jahreszahl 1866 in den
Gehirnen von Hinterwinkel so wenig mehr vorhanden ist als eine andre der
Weltgeschichte.

Noch eine Aufregung erlebten die Hinterwinller in jenen Tagen. Unter
den ins Dorf einmarschierenden Truppen, einfacher, blau montirter Infanterie,
wurde ein Reiter vou so ausfallender und glänzender Erscheinung bemerkt,


Weltgeschichte in Hinterwinkel

Brust trug er zwei schneeweiße Läppchen. Und ein bitter ernstes Gesicht
machte er. Gravitätisch stieg er die weichen Stufen zu seiner Kanzel empor.
Ein Kommandoruf, ein Trommelwirbel, und heilige Stille herrschte.

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes begann
der Prediger, und ich machte unwillkürlich das Kreuzzeichen. Er selber vergaß
es, wie ich im ersten Augenblick bei mir dachte. Aber langsamer, schöner,
andächtiger, unendlich viel feierlicher sprach er die Worte als unser Pfarrer
Bartholomes. Noch salbungsvoller sprach er das Vaterunser. Noch nie hatte
ich das Gebet des Herrn in so ergreifender Weise beten hören; ein heiliger
Schauer durchrieselte mich. Das Beten des Pfarrers Bartholomes war ein
lumpiges Herunterleiern dagegen. Nur eins kam mir komisch vor, daß der
Mann nicht Vater unser, sondern unser Vater sagte, und lebhaft bedauerte ich,
dnß der, der so schön betete, auch das „Gegrüßet seist du, Maria" vergaß, das
ich gar zu gern auch von ihm gehört hätte, weil es mich fast noch schöner
deuchte als das Vaterunser.

Nach dem Gebet erscholl die Musik und mit ihr lauter, weithin haltender
Gesang, dann begann die Predigt. Noch heute weiß ich den Anfang ganz
genau, und ich werde ihn auch nie vergessen. Es waren die Worte der
Schrift: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht
meine Wege, sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde —" Mehr
hörte ich nicht. Da geschah ein Krachen, ein Aufschreien in der Luft und
auf der Erde, ein Gedränge, ein Tumult. Der Hauptast des Weichsel-
bnums, auf dem ich mit vier andern meinen Sitz erwählt hatte, war gebrochen
und samt seiner fünffachen lebendigen Last auf die Köpfe der unterstehenden
dicht gedrängten Volksmasse gefallen. Es dauerte eine Weile, ehe der Pre¬
diger von neuem beginnen konnte.

Über diesen Zwischenfall wurde in der Folge viel gelacht, und noch heute
wird er in Hinterwinkel oft erzählt. Die so erschreckenden und vielfach ver¬
wirrenden und verbitternden Ereignisse jenes Jahres, die ersten Stürme und
Gewitterschauer des bald darauf anbrechenden politischen Frühlings der
deutschen Nation, sie find heute in Hinterwinkel so gut wie vergessen. Wenn
wem ihrer noch gedenkt, so geschieht es fast nur in Verbindung mit der Ge¬
schichte des Weichselbaums, die eiuer dem andern ins Gedächtnis zurückruft.
Auch das Andenken des Lienhard Neichenbühler ist tot wie er selber; niemand
weint mehr um ihn. Über den gebrochnen Weichselbaum aber lacht man noch,
Ulan wird vielleicht noch darüber lachen, wenn die Jahreszahl 1866 in den
Gehirnen von Hinterwinkel so wenig mehr vorhanden ist als eine andre der
Weltgeschichte.

Noch eine Aufregung erlebten die Hinterwinller in jenen Tagen. Unter
den ins Dorf einmarschierenden Truppen, einfacher, blau montirter Infanterie,
wurde ein Reiter vou so ausfallender und glänzender Erscheinung bemerkt,


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[0429] Weltgeschichte in Hinterwinkel Brust trug er zwei schneeweiße Läppchen. Und ein bitter ernstes Gesicht machte er. Gravitätisch stieg er die weichen Stufen zu seiner Kanzel empor. Ein Kommandoruf, ein Trommelwirbel, und heilige Stille herrschte. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes begann der Prediger, und ich machte unwillkürlich das Kreuzzeichen. Er selber vergaß es, wie ich im ersten Augenblick bei mir dachte. Aber langsamer, schöner, andächtiger, unendlich viel feierlicher sprach er die Worte als unser Pfarrer Bartholomes. Noch salbungsvoller sprach er das Vaterunser. Noch nie hatte ich das Gebet des Herrn in so ergreifender Weise beten hören; ein heiliger Schauer durchrieselte mich. Das Beten des Pfarrers Bartholomes war ein lumpiges Herunterleiern dagegen. Nur eins kam mir komisch vor, daß der Mann nicht Vater unser, sondern unser Vater sagte, und lebhaft bedauerte ich, dnß der, der so schön betete, auch das „Gegrüßet seist du, Maria" vergaß, das ich gar zu gern auch von ihm gehört hätte, weil es mich fast noch schöner deuchte als das Vaterunser. Nach dem Gebet erscholl die Musik und mit ihr lauter, weithin haltender Gesang, dann begann die Predigt. Noch heute weiß ich den Anfang ganz genau, und ich werde ihn auch nie vergessen. Es waren die Worte der Schrift: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde —" Mehr hörte ich nicht. Da geschah ein Krachen, ein Aufschreien in der Luft und auf der Erde, ein Gedränge, ein Tumult. Der Hauptast des Weichsel- bnums, auf dem ich mit vier andern meinen Sitz erwählt hatte, war gebrochen und samt seiner fünffachen lebendigen Last auf die Köpfe der unterstehenden dicht gedrängten Volksmasse gefallen. Es dauerte eine Weile, ehe der Pre¬ diger von neuem beginnen konnte. Über diesen Zwischenfall wurde in der Folge viel gelacht, und noch heute wird er in Hinterwinkel oft erzählt. Die so erschreckenden und vielfach ver¬ wirrenden und verbitternden Ereignisse jenes Jahres, die ersten Stürme und Gewitterschauer des bald darauf anbrechenden politischen Frühlings der deutschen Nation, sie find heute in Hinterwinkel so gut wie vergessen. Wenn wem ihrer noch gedenkt, so geschieht es fast nur in Verbindung mit der Ge¬ schichte des Weichselbaums, die eiuer dem andern ins Gedächtnis zurückruft. Auch das Andenken des Lienhard Neichenbühler ist tot wie er selber; niemand weint mehr um ihn. Über den gebrochnen Weichselbaum aber lacht man noch, Ulan wird vielleicht noch darüber lachen, wenn die Jahreszahl 1866 in den Gehirnen von Hinterwinkel so wenig mehr vorhanden ist als eine andre der Weltgeschichte. Noch eine Aufregung erlebten die Hinterwinller in jenen Tagen. Unter den ins Dorf einmarschierenden Truppen, einfacher, blau montirter Infanterie, wurde ein Reiter vou so ausfallender und glänzender Erscheinung bemerkt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/429>, abgerufen am 08.01.2025.