Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.segnen oder als den Anfang vom Ende verfluchen, wir können nicht mehr segnen oder als den Anfang vom Ende verfluchen, wir können nicht mehr <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212872"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1336" prev="#ID_1335" next="#ID_1337"> segnen oder als den Anfang vom Ende verfluchen, wir können nicht mehr<lb/> zurück. Auch der ärgste Reaktionär kann als praktisch erreichbar nur hoffen,<lb/> möglichst viel von dem Bestehenden und von dem alten Geiste in die neue Zeit<lb/> herüberzuretten. Daß die Sozialdemokratie als die jüngste und radikalste der<lb/> Parteien auch politisch auf den äußersten linken Flügel trat, war selbstver¬<lb/> ständlich. Ebenso, daß die bestehenden politischen Parteien im Interesse der<lb/> Staatserhaltung — ein klein wenig vielleicht auch im Interesse der Selbst¬<lb/> erhaltung? — zunächst versuchten, die neue Konkurrentin mit Gesetzesgewalt<lb/> zu unterdrücken. Dieser Versuch ist gescheitert, seine Wiederholung — täuschen<lb/> wir uns darüber nicht — ist aussichtslos. Was nun? Man hat eine Formel<lb/> gefunden, die auf viele, die sich schmeicheln, juristisch-logisch zu denken und<lb/> gerecht zu urteilen, eine außerordentliche Wirkung gehabt hat. Man sagt, der<lb/> Staat sei nicht verpflichtet, die unter seinen Einwohnern, die ihn selbst zu<lb/> beseitigen trachten, ihn „negiren," der staatlichen Rechte und Wohlthaten teil¬<lb/> haftig werden zu lassen. Er könne sie streng genommen auch von den durch<lb/> die Wahlen ihnen übertragnen Ämtern, vor allem von der Volksvertretung<lb/> ausschließen, mindestens sei er berechtigt, ihnen die praktische Mitarbeit in den<lb/> Parlamenten und ihren Kommissionen zu verweigern. Auch ihre Presse, ihre<lb/> Vereine und Versammlungen dürfe er mit anderm Maße messen, sehr wohl<lb/> könne er ihnen Vergünstigungen versagen, deren Gewährung überhaupt in das<lb/> Ermessen der Verwaltungsbehörden gestellt sei (Tcllersammlungeu u. dergl.).<lb/> Nun gilt aber doch schon im Privatrecht der Satz, daß niemand deshalb von<lb/> einem Vertrag zurücktreten kann, weil der Gegenpnrt dessen Erfüllung ver¬<lb/> weigert. Wäre aber ein solcher Rücktritt gestattet und wäre es selbst zulässig,<lb/> das Verhältnis zwischen Staat und Bürger unter die kümmerlichen Gesichts¬<lb/> punkte des Privatrechts zu bringen, so müßte doch das Rechts- und Pflichten¬<lb/> verhältnis gleichzeitig auf beiden Seiten zu Ende gehn. Folgerichtig wären<lb/> dann die sozialdemokratischen Staatsbürger von dem Heeresdienste, der Steuer-<lb/> Pflicht und zahlreichen andern öffentlichen Pflichten entbunden, umgekehrt<lb/> könnten sie auch keine Ansprüche auf Rechtsschutz für Leben, Freiheit, Eigen¬<lb/> tum n. f. w. erheben. Gegen die ersten dieser Folgerungen würden wohl der<lb/> Kriegs- und der Finanzminister, gegen die andern der Justizminister Einspruch<lb/> zu erheben haben. Und ob dem Verwaltungsminister damit gedient wäre, daß<lb/> die nun einmal im Lande wohnenden Hunderttausende von Sozialdemokraten<lb/> nach den Regeln des Pandekteurechts für nichtig erklärt würden, ist doch die<lb/> Frage. Auch dürfte sich das natürliche Rechtsgefühl schwerlich zu diesen<lb/> Höhen juristischer Sophistik erheben und die alten guten Sätze vergessen: Was<lb/> dem einen recht ist, ist dem andern billig, und: Was du nicht willst, daß man<lb/> dir thu, das füg auch keinem andern zu. Endlich müßte, wenn jene Grund¬<lb/> sätze auch nur im Sinn ihrer Verfechter einigermaßen gerecht gehandhabt<lb/> werden sollten, in jedem einzelne» Falle eine Prüfung der politischen Gesinnung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0396]
segnen oder als den Anfang vom Ende verfluchen, wir können nicht mehr
zurück. Auch der ärgste Reaktionär kann als praktisch erreichbar nur hoffen,
möglichst viel von dem Bestehenden und von dem alten Geiste in die neue Zeit
herüberzuretten. Daß die Sozialdemokratie als die jüngste und radikalste der
Parteien auch politisch auf den äußersten linken Flügel trat, war selbstver¬
ständlich. Ebenso, daß die bestehenden politischen Parteien im Interesse der
Staatserhaltung — ein klein wenig vielleicht auch im Interesse der Selbst¬
erhaltung? — zunächst versuchten, die neue Konkurrentin mit Gesetzesgewalt
zu unterdrücken. Dieser Versuch ist gescheitert, seine Wiederholung — täuschen
wir uns darüber nicht — ist aussichtslos. Was nun? Man hat eine Formel
gefunden, die auf viele, die sich schmeicheln, juristisch-logisch zu denken und
gerecht zu urteilen, eine außerordentliche Wirkung gehabt hat. Man sagt, der
Staat sei nicht verpflichtet, die unter seinen Einwohnern, die ihn selbst zu
beseitigen trachten, ihn „negiren," der staatlichen Rechte und Wohlthaten teil¬
haftig werden zu lassen. Er könne sie streng genommen auch von den durch
die Wahlen ihnen übertragnen Ämtern, vor allem von der Volksvertretung
ausschließen, mindestens sei er berechtigt, ihnen die praktische Mitarbeit in den
Parlamenten und ihren Kommissionen zu verweigern. Auch ihre Presse, ihre
Vereine und Versammlungen dürfe er mit anderm Maße messen, sehr wohl
könne er ihnen Vergünstigungen versagen, deren Gewährung überhaupt in das
Ermessen der Verwaltungsbehörden gestellt sei (Tcllersammlungeu u. dergl.).
Nun gilt aber doch schon im Privatrecht der Satz, daß niemand deshalb von
einem Vertrag zurücktreten kann, weil der Gegenpnrt dessen Erfüllung ver¬
weigert. Wäre aber ein solcher Rücktritt gestattet und wäre es selbst zulässig,
das Verhältnis zwischen Staat und Bürger unter die kümmerlichen Gesichts¬
punkte des Privatrechts zu bringen, so müßte doch das Rechts- und Pflichten¬
verhältnis gleichzeitig auf beiden Seiten zu Ende gehn. Folgerichtig wären
dann die sozialdemokratischen Staatsbürger von dem Heeresdienste, der Steuer-
Pflicht und zahlreichen andern öffentlichen Pflichten entbunden, umgekehrt
könnten sie auch keine Ansprüche auf Rechtsschutz für Leben, Freiheit, Eigen¬
tum n. f. w. erheben. Gegen die ersten dieser Folgerungen würden wohl der
Kriegs- und der Finanzminister, gegen die andern der Justizminister Einspruch
zu erheben haben. Und ob dem Verwaltungsminister damit gedient wäre, daß
die nun einmal im Lande wohnenden Hunderttausende von Sozialdemokraten
nach den Regeln des Pandekteurechts für nichtig erklärt würden, ist doch die
Frage. Auch dürfte sich das natürliche Rechtsgefühl schwerlich zu diesen
Höhen juristischer Sophistik erheben und die alten guten Sätze vergessen: Was
dem einen recht ist, ist dem andern billig, und: Was du nicht willst, daß man
dir thu, das füg auch keinem andern zu. Endlich müßte, wenn jene Grund¬
sätze auch nur im Sinn ihrer Verfechter einigermaßen gerecht gehandhabt
werden sollten, in jedem einzelne» Falle eine Prüfung der politischen Gesinnung
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |