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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

sämtliche Leute fortgelaufen; nicht einmal ein Bursche zu seiner persönlichen
Bedienung sei ihm geblieben, sein Geld sei so gut wie nicht vorhanden ge¬
wesen. So könne es dort niemals zur "Kapitalbildung," zur Anhäufung von
Kapitalien kommen. Erst wenn sich viele durch Not zu billiger Lohnarbeit
gezwungen sehen, könne das Geld "Kapital" werden. Man müsse daher auf
das Kolonialland Beschlag legen, Grundstücke nur zu hohem Preise verkaufen,
gleichzeitig englische Proletarier in die Kolonien transportiren und dort einen
hungernden Arbeiterstand schaffen wie in England, dann werde die "beklagens¬
werte Zersplitterung des Kapitals" ein Ende haben. Sollten diese Gedanken
nicht fortgewirkt haben, wenn auch vielleicht halb unbewußt?

Der Tarif vou 1864 wirkte zwar zunächst sehr fördernd, aber bald er¬
folgte ein Rückschlag, da die Vorteile des Zvllschutzes die erhöhten Produktions¬
kosten: Steuern und höhere Arbeitslöhne, nicht aufwogen. Doch richtete sich
die Opposition natürlicherweise mehr gegen die hohen Steuern als gegen die
hohen Zölle, und das Fabrikanteninteresse war mächtig genng, einige Jahre
hindurch jede Tarifrefvrm zu verhindern. Die erste sogenannte Reform im
Jahre 1870 war nur Schein, denn nur die Zölle aus solche Waren, die keines
Schutzes bedurften, wie Thee und Kaffee, wurden herabgesetzt. Eine im Jahre
1872 beschloßne Herabsetzung der Zölle um zehn Prozent wurde bald darauf
aus finanziellen Gründen wieder rückgängig gemacht. Auch die Verhandlungen
von 1882 und 1333 endigten mit einem Siege der Prvtektivnisteu; und ihr
Ergebnis lief wieder auf eine Scheinreform zur Beschwichtigung der öffent¬
lichen Meinung hinaus. Im Jahre 1837 nahm Präsident Cleveland die
Tarifreform ins demokratische Programm ans und machte sie so zur Wahl¬
parole für die Präsidentschaftskampagne von 1888. Seitdem ist die Zoll¬
politik das Hauptunterscheidungszeichen der beiden großen politischen Parteien
geblieben: der Protektionismus steht und fällt mit der Nepublikanerpartei.
Da die längst mündig und mächtig gewordne nordamerilünische Industrie
unmöglich mehr als ein des Schutzes bedürftiges Kindlein dargestellt werden
konnte, so gingen die Republikaner zu einer andern Begründnngsweise über;
sie erklärten von nun an, der amerikanische Arbeiter müsse vor den niedrigen
Löhnen geschützt werden, an denen der europäische leide. Wenn dieses Argu¬
ment aufrichtig gemeint wäre, so würde es die amerikanischen Großindustriellen
von dem Verdachte des oben beschriebnen Wakefieldismus reinigen, aber wer
vermöchte wohl herauszubekommen, ob und wie weit eine politische Partei
aufrichtig ist? Die Republikaner gingen min frisch zum Angriff über und
forderten sogar Erhöhung der Schutzzölle; der Verlegenheit beständiger Über¬
schüsse könne zuerst durch Steuerermäßigung, sodann durch Herabsetzung der
Finanzzölle vorgebeugt werden. Der Senatsbill, die diesen Forderungen nach¬
kam, setzte zwar Roger Mills seine "finstre Laterneubill" entgegen, von
den Industriellen so genannt, weil sie nicht befragt worden waren --, allein


Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

sämtliche Leute fortgelaufen; nicht einmal ein Bursche zu seiner persönlichen
Bedienung sei ihm geblieben, sein Geld sei so gut wie nicht vorhanden ge¬
wesen. So könne es dort niemals zur „Kapitalbildung," zur Anhäufung von
Kapitalien kommen. Erst wenn sich viele durch Not zu billiger Lohnarbeit
gezwungen sehen, könne das Geld „Kapital" werden. Man müsse daher auf
das Kolonialland Beschlag legen, Grundstücke nur zu hohem Preise verkaufen,
gleichzeitig englische Proletarier in die Kolonien transportiren und dort einen
hungernden Arbeiterstand schaffen wie in England, dann werde die „beklagens¬
werte Zersplitterung des Kapitals" ein Ende haben. Sollten diese Gedanken
nicht fortgewirkt haben, wenn auch vielleicht halb unbewußt?

Der Tarif vou 1864 wirkte zwar zunächst sehr fördernd, aber bald er¬
folgte ein Rückschlag, da die Vorteile des Zvllschutzes die erhöhten Produktions¬
kosten: Steuern und höhere Arbeitslöhne, nicht aufwogen. Doch richtete sich
die Opposition natürlicherweise mehr gegen die hohen Steuern als gegen die
hohen Zölle, und das Fabrikanteninteresse war mächtig genng, einige Jahre
hindurch jede Tarifrefvrm zu verhindern. Die erste sogenannte Reform im
Jahre 1870 war nur Schein, denn nur die Zölle aus solche Waren, die keines
Schutzes bedurften, wie Thee und Kaffee, wurden herabgesetzt. Eine im Jahre
1872 beschloßne Herabsetzung der Zölle um zehn Prozent wurde bald darauf
aus finanziellen Gründen wieder rückgängig gemacht. Auch die Verhandlungen
von 1882 und 1333 endigten mit einem Siege der Prvtektivnisteu; und ihr
Ergebnis lief wieder auf eine Scheinreform zur Beschwichtigung der öffent¬
lichen Meinung hinaus. Im Jahre 1837 nahm Präsident Cleveland die
Tarifreform ins demokratische Programm ans und machte sie so zur Wahl¬
parole für die Präsidentschaftskampagne von 1888. Seitdem ist die Zoll¬
politik das Hauptunterscheidungszeichen der beiden großen politischen Parteien
geblieben: der Protektionismus steht und fällt mit der Nepublikanerpartei.
Da die längst mündig und mächtig gewordne nordamerilünische Industrie
unmöglich mehr als ein des Schutzes bedürftiges Kindlein dargestellt werden
konnte, so gingen die Republikaner zu einer andern Begründnngsweise über;
sie erklärten von nun an, der amerikanische Arbeiter müsse vor den niedrigen
Löhnen geschützt werden, an denen der europäische leide. Wenn dieses Argu¬
ment aufrichtig gemeint wäre, so würde es die amerikanischen Großindustriellen
von dem Verdachte des oben beschriebnen Wakefieldismus reinigen, aber wer
vermöchte wohl herauszubekommen, ob und wie weit eine politische Partei
aufrichtig ist? Die Republikaner gingen min frisch zum Angriff über und
forderten sogar Erhöhung der Schutzzölle; der Verlegenheit beständiger Über¬
schüsse könne zuerst durch Steuerermäßigung, sodann durch Herabsetzung der
Finanzzölle vorgebeugt werden. Der Senatsbill, die diesen Forderungen nach¬
kam, setzte zwar Roger Mills seine „finstre Laterneubill" entgegen, von
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[0356] Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts sämtliche Leute fortgelaufen; nicht einmal ein Bursche zu seiner persönlichen Bedienung sei ihm geblieben, sein Geld sei so gut wie nicht vorhanden ge¬ wesen. So könne es dort niemals zur „Kapitalbildung," zur Anhäufung von Kapitalien kommen. Erst wenn sich viele durch Not zu billiger Lohnarbeit gezwungen sehen, könne das Geld „Kapital" werden. Man müsse daher auf das Kolonialland Beschlag legen, Grundstücke nur zu hohem Preise verkaufen, gleichzeitig englische Proletarier in die Kolonien transportiren und dort einen hungernden Arbeiterstand schaffen wie in England, dann werde die „beklagens¬ werte Zersplitterung des Kapitals" ein Ende haben. Sollten diese Gedanken nicht fortgewirkt haben, wenn auch vielleicht halb unbewußt? Der Tarif vou 1864 wirkte zwar zunächst sehr fördernd, aber bald er¬ folgte ein Rückschlag, da die Vorteile des Zvllschutzes die erhöhten Produktions¬ kosten: Steuern und höhere Arbeitslöhne, nicht aufwogen. Doch richtete sich die Opposition natürlicherweise mehr gegen die hohen Steuern als gegen die hohen Zölle, und das Fabrikanteninteresse war mächtig genng, einige Jahre hindurch jede Tarifrefvrm zu verhindern. Die erste sogenannte Reform im Jahre 1870 war nur Schein, denn nur die Zölle aus solche Waren, die keines Schutzes bedurften, wie Thee und Kaffee, wurden herabgesetzt. Eine im Jahre 1872 beschloßne Herabsetzung der Zölle um zehn Prozent wurde bald darauf aus finanziellen Gründen wieder rückgängig gemacht. Auch die Verhandlungen von 1882 und 1333 endigten mit einem Siege der Prvtektivnisteu; und ihr Ergebnis lief wieder auf eine Scheinreform zur Beschwichtigung der öffent¬ lichen Meinung hinaus. Im Jahre 1837 nahm Präsident Cleveland die Tarifreform ins demokratische Programm ans und machte sie so zur Wahl¬ parole für die Präsidentschaftskampagne von 1888. Seitdem ist die Zoll¬ politik das Hauptunterscheidungszeichen der beiden großen politischen Parteien geblieben: der Protektionismus steht und fällt mit der Nepublikanerpartei. Da die längst mündig und mächtig gewordne nordamerilünische Industrie unmöglich mehr als ein des Schutzes bedürftiges Kindlein dargestellt werden konnte, so gingen die Republikaner zu einer andern Begründnngsweise über; sie erklärten von nun an, der amerikanische Arbeiter müsse vor den niedrigen Löhnen geschützt werden, an denen der europäische leide. Wenn dieses Argu¬ ment aufrichtig gemeint wäre, so würde es die amerikanischen Großindustriellen von dem Verdachte des oben beschriebnen Wakefieldismus reinigen, aber wer vermöchte wohl herauszubekommen, ob und wie weit eine politische Partei aufrichtig ist? Die Republikaner gingen min frisch zum Angriff über und forderten sogar Erhöhung der Schutzzölle; der Verlegenheit beständiger Über¬ schüsse könne zuerst durch Steuerermäßigung, sodann durch Herabsetzung der Finanzzölle vorgebeugt werden. Der Senatsbill, die diesen Forderungen nach¬ kam, setzte zwar Roger Mills seine „finstre Laterneubill" entgegen, von den Industriellen so genannt, weil sie nicht befragt worden waren —, allein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/356>, abgerufen am 09.01.2025.