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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Meine erste Gesellschaft

Die nun folgenden Minuten werde ich im Leben nicht vergessen! Ich sah,
wie sich die Dame vergebens bemühte, ein Stückchen Pudding abzustechen;
glatt wie ein Aal schlüpfte ihr die Masse immer wieder unter dem Löffel fort.
Endlich, mit Hilfe des Dessertmessers gelang es ihr, und das Schaf wanderte
weiter. Mir wurde bald heiß, bald kalt. Entsetzt folgte ich mit den Augen,
während sich mein Mund mit meinem Nachbar über die Sozialdemokratie
unterhielt. Ja, die Masse hält zäh zusammen, fuhr er gerade fort. Sollte
das gar eine Anspielung sein? Ich wurde über und über rot.

Unterdessen sah ich, wie Doktor Grimm, der nach langem Kampfe endlich
ein nußgroßes Stückchen heruntergesübelt hatte, es auf seinen Teller fallen
ließ, wobei es wie ein Stück Radirgummi in die Höhe sprang. Sein Nachbar,
ein verwöhnter Mediziner, mit weichen Polstern auf Gesicht und Händen,
dankte mit einer Handbewegung. Über Christinens verklärtes Antlitz hatte
sich schon vorher ein leichter Schatten gelegt. Aber sie versuchte es uoch
einmal und hielt ihm lächelnd die Platte hin. Aber er dankte nochmals, und
Christine zog sich kopfschüttelnd zurück.

Todesmutig schnitt ich mir nun selbst ein Stück herunter und suchte die
Gelatinemasse zu bewältigen. Gleich darauf sah ich, wie Doktor Grimm, an den
die Platte zum zweitenmale kam, sich noch ein Stück hernnterschnitt. Er mußte
meine Verlegenheit bemerkt haben. Ich werde ihm diese Großherzigkeit nie
vergessen.

Die Nelken auf dem Tische dufteten schwül, die Stimmen wurden immer
lauter, mein Gesicht immer heißer. Endlich war es so weit, und wir er¬
hoben uns, um uns im Nebenzimmer angelegentlich "gesegnete Mahlzeit" zu
wünschen. Mir war, als müßten mir alle gratuliren, daß die Schlacht über¬
standen sei; aber es schien niemand daran zu denken.

Nun stand man planlos umher. Die Verandathür mußte geschlossen
werden, weil Frau Pfister um Rheumatismus litt. Genug Stühle waren
schnell zur Hand, mein Mann und ich animirter zum Sitzen, und ich nötigte
mit vieler Mühe Doktor Schuster aufs Sofa nieder, damit man merkte, daß
bunte Reihe werden sollte. Aber die andern Herren nickten und dankten ver¬
bindlich, wenn ihnen mein Mann Stühle anbot, und bald saßen nur die Damen
um den Tisch. Vor dem Essen hatte ich herausgebracht, daß die Damen von
Konrad Ferdinand Meyer alle nur die Erzählungen kannten. So ging ich
denn an mein Bücherbrett, meinen größten Stolz, acht breite Reihen schöner
funkelnder Einbände, nahm "Huttens letzte Tage" heraus und bat Pro¬
fessor Andren darum, etwas draus vorzulesen. Ich hatte ihn so gern, mit
seinem lieben, weiß umrahmten Gesicht mit den hellen blauen Augen, in denen
eine stille Welt für sich zu liegen schien. Daß er schön vorlas, wußte ich.
Aber er verstand sich offenbar nicht gerne dazu und unterhielt mich lange
über das Buch und die Schönheit seiner Verse. Unterdessen hatte aber


Meine erste Gesellschaft

Die nun folgenden Minuten werde ich im Leben nicht vergessen! Ich sah,
wie sich die Dame vergebens bemühte, ein Stückchen Pudding abzustechen;
glatt wie ein Aal schlüpfte ihr die Masse immer wieder unter dem Löffel fort.
Endlich, mit Hilfe des Dessertmessers gelang es ihr, und das Schaf wanderte
weiter. Mir wurde bald heiß, bald kalt. Entsetzt folgte ich mit den Augen,
während sich mein Mund mit meinem Nachbar über die Sozialdemokratie
unterhielt. Ja, die Masse hält zäh zusammen, fuhr er gerade fort. Sollte
das gar eine Anspielung sein? Ich wurde über und über rot.

Unterdessen sah ich, wie Doktor Grimm, der nach langem Kampfe endlich
ein nußgroßes Stückchen heruntergesübelt hatte, es auf seinen Teller fallen
ließ, wobei es wie ein Stück Radirgummi in die Höhe sprang. Sein Nachbar,
ein verwöhnter Mediziner, mit weichen Polstern auf Gesicht und Händen,
dankte mit einer Handbewegung. Über Christinens verklärtes Antlitz hatte
sich schon vorher ein leichter Schatten gelegt. Aber sie versuchte es uoch
einmal und hielt ihm lächelnd die Platte hin. Aber er dankte nochmals, und
Christine zog sich kopfschüttelnd zurück.

Todesmutig schnitt ich mir nun selbst ein Stück herunter und suchte die
Gelatinemasse zu bewältigen. Gleich darauf sah ich, wie Doktor Grimm, an den
die Platte zum zweitenmale kam, sich noch ein Stück hernnterschnitt. Er mußte
meine Verlegenheit bemerkt haben. Ich werde ihm diese Großherzigkeit nie
vergessen.

Die Nelken auf dem Tische dufteten schwül, die Stimmen wurden immer
lauter, mein Gesicht immer heißer. Endlich war es so weit, und wir er¬
hoben uns, um uns im Nebenzimmer angelegentlich „gesegnete Mahlzeit" zu
wünschen. Mir war, als müßten mir alle gratuliren, daß die Schlacht über¬
standen sei; aber es schien niemand daran zu denken.

Nun stand man planlos umher. Die Verandathür mußte geschlossen
werden, weil Frau Pfister um Rheumatismus litt. Genug Stühle waren
schnell zur Hand, mein Mann und ich animirter zum Sitzen, und ich nötigte
mit vieler Mühe Doktor Schuster aufs Sofa nieder, damit man merkte, daß
bunte Reihe werden sollte. Aber die andern Herren nickten und dankten ver¬
bindlich, wenn ihnen mein Mann Stühle anbot, und bald saßen nur die Damen
um den Tisch. Vor dem Essen hatte ich herausgebracht, daß die Damen von
Konrad Ferdinand Meyer alle nur die Erzählungen kannten. So ging ich
denn an mein Bücherbrett, meinen größten Stolz, acht breite Reihen schöner
funkelnder Einbände, nahm „Huttens letzte Tage" heraus und bat Pro¬
fessor Andren darum, etwas draus vorzulesen. Ich hatte ihn so gern, mit
seinem lieben, weiß umrahmten Gesicht mit den hellen blauen Augen, in denen
eine stille Welt für sich zu liegen schien. Daß er schön vorlas, wußte ich.
Aber er verstand sich offenbar nicht gerne dazu und unterhielt mich lange
über das Buch und die Schönheit seiner Verse. Unterdessen hatte aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/332>, abgerufen am 09.01.2025.