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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

Schon recht, schon recht! schrie der Bäcker, aber dann muß man ehrlich
sein und sich nicht stellen, als ob man ein Verbündeter wäre, während mans
mit dem Feinde hält.

So stritten sie immer heftiger und gehässiger, während mir unter dem
fortgesetzten Brüllen der Kanonen Erd und Himmel zu zittern schienen. Jeden
Augenblick konnte eine Granate einschlagen und den Hadernden das Dach über
dein Kopfe anzünden. Ich wagte kaum zu atmen.

Auch als das Schießen ziemlich bald wieder aufhörte, wie schon einige¬
mal an diesem Nachmittag, dauerte doch das Entsetzen in unserm Keller noch
lange fort. Erst als mehrere preußische Kompagnien in die Stadt zurück-
marschierten und viele Stadtbewohner sich wieder auf die Straße wagten, drang
auch zu uns die Nachricht, daß der Kampf in der That vorüber sei und die
Württembergischen endgiltig abgezogen seien.

Auch ich kroch hervor und schlich mich scheu durch die Straßen. Furcht
und Schrecken waren etwas von mir gewichen; aber dafür fühlte ich mich in
einem nicht weniger unerquicklichen Zustande der Seele und des Leibes. Ich
hatte zu viel und zu unbegreifliches in den paar Stunden erlebt, der Verstand
drohte mir stille zu stehen. Nur mit Mühe vermochte ich mir die Dinge um
mich her zum Bewußtsein zu bringen.

Ich kam hinaus gegen die Brücke, wo gekämpft worden war. Hier
rauchten noch die Brandstätten der zerstörten Häuser. Von allen Seiten
wurden Tote und Verwundete herbeigetragen.

So erschütternd dieses Schauspiel auf mich wirkte, und so gern ich die
Flucht davor ergriffen hätte, kehrte ich dennoch nicht um. Ich wollte nicht
Hinsehen, wo einer stöhnte und winselte; aber ich that es doch, ich sah fest
hin, und wenn es nur übel werden wollte, biß ich die Zähne auf einander.

Fast war mirs, als ob ich etwas suchte, als ob ich noch etwas ganz
besondres erleben müßte.

Ach, und das erfüllte sich. Ich fühlte mich auf einmal wie vernichtet.
Ich hatte einen Soldaten vorübertragen sehen mit zerschoßnem Unterkiefer,
mit brandig ausgelaufnem, entstelltem Gesicht. Aber die blutverklebten Haare,
und ich weiß nicht, was sonst noch, hatten mich an Lienhnrd Neichenbühler
erinnert.

Mir wurde schwindlig vor den Augen. Ich kam noch an einem Orte
vorüber, in der Nähe einer Kapelle, wo ein Hause preußischer Soldaten eine
weite Grube aufschaufelte. Ich dachte noch: da werden sie ihn hineinscharren.
Es war das letzte, was mir deutlich zum Bewußtsein kam.

Wie ein vor Schreck halb Irrsinniger, der einem Erdbeben oder einem
vermeintlichen Weltuntergang entronnen ist, floh ich hinaus ins Freie. Erst
nach längerer Zeit gewann ich genug Besinnung, einen Begegnenden nach der
Wegrichtung zu fragen.


Weltgeschichte in Hinterwinkel

Schon recht, schon recht! schrie der Bäcker, aber dann muß man ehrlich
sein und sich nicht stellen, als ob man ein Verbündeter wäre, während mans
mit dem Feinde hält.

So stritten sie immer heftiger und gehässiger, während mir unter dem
fortgesetzten Brüllen der Kanonen Erd und Himmel zu zittern schienen. Jeden
Augenblick konnte eine Granate einschlagen und den Hadernden das Dach über
dein Kopfe anzünden. Ich wagte kaum zu atmen.

Auch als das Schießen ziemlich bald wieder aufhörte, wie schon einige¬
mal an diesem Nachmittag, dauerte doch das Entsetzen in unserm Keller noch
lange fort. Erst als mehrere preußische Kompagnien in die Stadt zurück-
marschierten und viele Stadtbewohner sich wieder auf die Straße wagten, drang
auch zu uns die Nachricht, daß der Kampf in der That vorüber sei und die
Württembergischen endgiltig abgezogen seien.

Auch ich kroch hervor und schlich mich scheu durch die Straßen. Furcht
und Schrecken waren etwas von mir gewichen; aber dafür fühlte ich mich in
einem nicht weniger unerquicklichen Zustande der Seele und des Leibes. Ich
hatte zu viel und zu unbegreifliches in den paar Stunden erlebt, der Verstand
drohte mir stille zu stehen. Nur mit Mühe vermochte ich mir die Dinge um
mich her zum Bewußtsein zu bringen.

Ich kam hinaus gegen die Brücke, wo gekämpft worden war. Hier
rauchten noch die Brandstätten der zerstörten Häuser. Von allen Seiten
wurden Tote und Verwundete herbeigetragen.

So erschütternd dieses Schauspiel auf mich wirkte, und so gern ich die
Flucht davor ergriffen hätte, kehrte ich dennoch nicht um. Ich wollte nicht
Hinsehen, wo einer stöhnte und winselte; aber ich that es doch, ich sah fest
hin, und wenn es nur übel werden wollte, biß ich die Zähne auf einander.

Fast war mirs, als ob ich etwas suchte, als ob ich noch etwas ganz
besondres erleben müßte.

Ach, und das erfüllte sich. Ich fühlte mich auf einmal wie vernichtet.
Ich hatte einen Soldaten vorübertragen sehen mit zerschoßnem Unterkiefer,
mit brandig ausgelaufnem, entstelltem Gesicht. Aber die blutverklebten Haare,
und ich weiß nicht, was sonst noch, hatten mich an Lienhnrd Neichenbühler
erinnert.

Mir wurde schwindlig vor den Augen. Ich kam noch an einem Orte
vorüber, in der Nähe einer Kapelle, wo ein Hause preußischer Soldaten eine
weite Grube aufschaufelte. Ich dachte noch: da werden sie ihn hineinscharren.
Es war das letzte, was mir deutlich zum Bewußtsein kam.

Wie ein vor Schreck halb Irrsinniger, der einem Erdbeben oder einem
vermeintlichen Weltuntergang entronnen ist, floh ich hinaus ins Freie. Erst
nach längerer Zeit gewann ich genug Besinnung, einen Begegnenden nach der
Wegrichtung zu fragen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/324>, abgerufen am 08.01.2025.