Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.solle auf dem alten Fuße gelassen und kein Gewissenszwang eingeführt werden: Grenzboten III 1892 34
solle auf dem alten Fuße gelassen und kein Gewissenszwang eingeführt werden: Grenzboten III 1892 34
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solle auf dem alten Fuße gelassen und kein Gewissenszwang eingeführt werden:
„jedoch daß in den cedirten Ländern die griechische Religion hinfüro ebenfalls
frei und ungehindert exerzirt werden könne und möge." Demnach blieb die
lutherische Kirche von Rechts wegen die herrschende, nur daß daneben die
griechische sreie Religionsübung haben sollte. Bis zum Jahre 1832 wurde
dieses Recht formell nicht angetastet, wenn auch von 1794 ab die Praxis auf¬
kam, daß die Kinder aus gemischten Ehen der griechischen Kirche zugewiesen
wurden, nachdem sich schon vorher Katharina die Zweite einen Eingriff in die
Verfassung der Lander erlaubt hatte. „Aber diese Verletzungen des Landes¬
rechts — schreibt der Verfasser — wurden teils wieder beseitigt, teils kam
ihre Tragweite einer Zeit gar nicht zum Bewußtsein, die von den Ideen der
Aufklärung beherrscht, ebensowohl des kirchlichen wie des geschichtlichen Sinnes
entbehrte." Im Jahre 1832 aber unterwarf Kaiser Nikolaus durch eine
Kirchenverordnung die Lutheraner der Ostseeprovinzen denselben Gesetzen, die
im übrigen Rußland gelten; die Kinder aus gemischten Ehen wurden aus¬
drücklich der griechischen Kirche überwiesen, und dieser ward das Recht der
Proselytenmacherei zugesichert, indem das Strafgesetz jeden evangelischen Geist¬
lichen bedrohte, der seine Gemeindeglieder vom Abfall abmahnte. Zu einem
Seelenfange im großen ward die Hungersnot von 1844 und 45 benntzt.
Die griechische Geistlichkeit und die russischen Beamten verbreiteten nämlich
das Gerücht, deu zur griechischen Kirche übergetretenen Bauern würde ent¬
weder Herrenland oder Krongut zugewiesen werden — schon vorher hatte es
geheißen, sie sollte» Land im Innern des Reiches bekommen —; wer dagegen
nicht überträte, der würde in die Leibeigenschaft zurückversetzt werden. Der
Zudrang der landgierigen Bauern zum Erzbischof von Riga war so stark,
daß die Massenfirmnng tumultuarisch, ohne vorhergehende Übertrittserklärung
vor der Obrigkeit, vorgenommen werden konnte. Wer sich in der Kirche ein Kreuz
umhänge» ließ, glaubte damit einen Anspruch auf Acker erworben zu haben. Vor¬
sichtige ließen sich auf einen fremden Namen firmen, um, wenn es etwa mit der
Landschenknng nichts wäre, ihre» väterliche» Glauben nicht umsonst preisgegeben
zu haben. Mit dem Lande war es anch wirklich nichts, aber die ärmsten,
deren Namen von falschen Brüdern gemißbraucht worden waren, hat dann
der Erzbischof für seine Kirche reklamirt, und die Polizei hat sie ihm zugeführt.
Walter äußerte über diesen Unfug u. a., das dabei bewegende trage einen
revolutionären Charakter; im Schweiße deines Angesichts sollst dn dein Brot
verdienen, dieser Grundsatz müsse als Grundlage des Staats verteidigt werden.
„In dem Augenblick, als es dem Volk in den Sinn gestellt ward, es könne
in der Fremde oder in der Heimat nicht durch den von Gott geordneten
Schweiß des Angesichts, sondern durch irgeud eines Machthabers Zauberwort
auf Kosten fremden Eigentums besitzlich (?) werden, seit dem Augenblick ist
der Funke der Revolution in das Volk geworfen."
Grenzboten III 1892 34
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