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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Bischof Walter

berühren mußten. Das paulinische Element in seiner Natur, das ihn sich
früher nur im Kampf und Ringen recht wohl fühlen ließ, war längst einer
in sich geruhigten ^hio!j milden Denkweise gewichen, deren er in dem ver¬
söhnenden und ausgleichenden Walten in der Kirchenleitung bedürfte. Wohl
hatte er auch schon in mancher Richtung resigniren gelernt; aber ans die Arbeit
selbst, auf die Thätigkeit fürs Gemeinwohl zu verzichten, sich in die Jsolirung
des Privatlebens zu finden, war eine Forderung, mit der er sich erst befreunden
konnte, als Gründe sie unabweislich machten, die ihn der Verpflichtung eines
weitern irdische" Wirkens enthoben." Man versteht unter diesen Umständen
um so besser die in heutiger Zeit ohnehin naheliegende Mahnung an einen
seiner Sohne: "Kräftige dich am Leibe, daß du später etwas vertragen kannst;
denn was du auch ergreifen magst, kein leichtes Leben bietet die Zukunft
unsrer Heimat. Ohne Vorliebe aber kein gelehrter oder gar ein theologischer,
weil das Gewissen immer berührender Beruf! Lieber Schuster sein mit un¬
getrübtem Gewissen." Bald folgten häusliche Schläge; seine geliebte Frau
ward ihm entrissen, auch ein Sohn im Jünglingsalter, den er nach Pan ge¬
bracht und dort mit rührender Sorgfalt verpflegt hatte. Noch einmal, im
Hnugcrwiuter 1868--69, entfaltete er in Dorpat eine gemeinnützige Thätigkeit,
indem er für die in Scharen herumschweifenden Vettelkinder eine Schule
gründete, in der sie beköstigt wurden, und erlag dann den erlittnen Anstren¬
gungen und Erschütterungen. Am 29. Juni 1869 brach er, vom Bade zurück¬
kehrend, am Meeresstrande tot zusammen.

Das also war der Manu, auf den die evangelischen Deutschen der Ost-
seeprovinzen ihre Hoffnung setzten in jener Zeit, wo sich die Verfolgung an¬
kündigte, die heute über sie hereingebrochen ist. Vier unter einander verflochtn?
Verhältnisse sind es, die den eigentümlichen Zustand jener Länder ausmachten,
der nun beseitigt werden soll und zum Teil schon beseitigt ist: das der luthe¬
rischen zur griechischen Kirche, das der Ritterschaft zur Bauernschaft, das der
deutschen Nationalität zur lettischen und esthuischeu, und das der Provinzen
zum Staate, zum Kaiser. Als sich die Livländer, von Rußland bedroht, im
Jahre 1561 unter den Schutz Polens stellten, sicherte ihnen das l^ivilkZium
ZigismunÄi zu, daß sie "bei der reinen evangelischen Lehre der Augsburgischen
Konfession und unter einer deutschen Herrschaft und unter einem deutschen
Rechte" gelassen werden sollten. Zwar wurden die Polen vertragsbrüchig,
aber beim Übergange des Landes an Schwede" (1602) wurde das Privilegium
erneuert und 1648 von der Königin Christine sowie 1678 von Karl dem
Zwölften bestätigt. Als Livland 1710 an Rußland fiel, erkannte Peter der
Große die Verbindlichkeit des Privilegiums für sich und seine Nachkommen
an. Noch zweimal, in den Friedensschlüssen von Nhstädt und Abo, 1721
und 1743, wurde es bestätigt und wurde bestimmt: alle Rechte und Gewohn¬
heiten, die Regierung, die evangelische Religion, das Kirchen- und Schulwesen


Bischof Walter

berühren mußten. Das paulinische Element in seiner Natur, das ihn sich
früher nur im Kampf und Ringen recht wohl fühlen ließ, war längst einer
in sich geruhigten ^hio!j milden Denkweise gewichen, deren er in dem ver¬
söhnenden und ausgleichenden Walten in der Kirchenleitung bedürfte. Wohl
hatte er auch schon in mancher Richtung resigniren gelernt; aber ans die Arbeit
selbst, auf die Thätigkeit fürs Gemeinwohl zu verzichten, sich in die Jsolirung
des Privatlebens zu finden, war eine Forderung, mit der er sich erst befreunden
konnte, als Gründe sie unabweislich machten, die ihn der Verpflichtung eines
weitern irdische» Wirkens enthoben." Man versteht unter diesen Umständen
um so besser die in heutiger Zeit ohnehin naheliegende Mahnung an einen
seiner Sohne: „Kräftige dich am Leibe, daß du später etwas vertragen kannst;
denn was du auch ergreifen magst, kein leichtes Leben bietet die Zukunft
unsrer Heimat. Ohne Vorliebe aber kein gelehrter oder gar ein theologischer,
weil das Gewissen immer berührender Beruf! Lieber Schuster sein mit un¬
getrübtem Gewissen." Bald folgten häusliche Schläge; seine geliebte Frau
ward ihm entrissen, auch ein Sohn im Jünglingsalter, den er nach Pan ge¬
bracht und dort mit rührender Sorgfalt verpflegt hatte. Noch einmal, im
Hnugcrwiuter 1868—69, entfaltete er in Dorpat eine gemeinnützige Thätigkeit,
indem er für die in Scharen herumschweifenden Vettelkinder eine Schule
gründete, in der sie beköstigt wurden, und erlag dann den erlittnen Anstren¬
gungen und Erschütterungen. Am 29. Juni 1869 brach er, vom Bade zurück¬
kehrend, am Meeresstrande tot zusammen.

Das also war der Manu, auf den die evangelischen Deutschen der Ost-
seeprovinzen ihre Hoffnung setzten in jener Zeit, wo sich die Verfolgung an¬
kündigte, die heute über sie hereingebrochen ist. Vier unter einander verflochtn?
Verhältnisse sind es, die den eigentümlichen Zustand jener Länder ausmachten,
der nun beseitigt werden soll und zum Teil schon beseitigt ist: das der luthe¬
rischen zur griechischen Kirche, das der Ritterschaft zur Bauernschaft, das der
deutschen Nationalität zur lettischen und esthuischeu, und das der Provinzen
zum Staate, zum Kaiser. Als sich die Livländer, von Rußland bedroht, im
Jahre 1561 unter den Schutz Polens stellten, sicherte ihnen das l^ivilkZium
ZigismunÄi zu, daß sie „bei der reinen evangelischen Lehre der Augsburgischen
Konfession und unter einer deutschen Herrschaft und unter einem deutschen
Rechte" gelassen werden sollten. Zwar wurden die Polen vertragsbrüchig,
aber beim Übergange des Landes an Schwede» (1602) wurde das Privilegium
erneuert und 1648 von der Königin Christine sowie 1678 von Karl dem
Zwölften bestätigt. Als Livland 1710 an Rußland fiel, erkannte Peter der
Große die Verbindlichkeit des Privilegiums für sich und seine Nachkommen
an. Noch zweimal, in den Friedensschlüssen von Nhstädt und Abo, 1721
und 1743, wurde es bestätigt und wurde bestimmt: alle Rechte und Gewohn¬
heiten, die Regierung, die evangelische Religion, das Kirchen- und Schulwesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/272>, abgerufen am 09.01.2025.