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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Ethik in der Gegenwart

Einen Antrieb zum Guten entnimmt die christliche Ethik ferner daraus,
daß das sittliche Ideal in konkreter Gestalt in der Person des Erlösers, als
"des schönsten der Menschenkinder," dargestellt wird. Dies ist von großer
pädagogischer Bedeutung. Wenn Cieero schreibt: Wenn man die Tugenden
leibhaftig sehen könnte, so würden sie eine große Liebe zu ihrer Schön¬
heit einflößen, so giebt die christliche Ethik das leibhaftige Bild im Vorbilde
des Meisters. Dieser tritt dem Jünger gegenüber nicht fordernd, sondern
gebend, als ein Wohlthäter, der den Menschen aus tiefster Not erlöst und in
die höchste Glückseligkeit versetzt. Daß sein Gebot erfüllt werde, gebietet also
nicht allein der Wert dieses Gebots, sondern auch die brennende Pflicht der
Dankbarkeit. Das sind "feurige Kohlen auf dem Haupte," ein Antrieb aller-
stärkster Art. Thu es um meinetwillen! ist sein Gebot, du darfst ein weniges
von der großen Pflicht der Dankbarkeit, die auf dir liegt, abtragen, wenn du
mein Gebot erfüllst.

Endlich richtet die christliche Ethik die Aufmerksamkeit nicht auf einen ein¬
zelnen Fall oder eine gedachte Reihe von Fällen, sondern auf die Summe
aller Handlungen und kommt zu dem Schlüsse, daß diese Summe nicht zu
erfüllen ist. Es bleibt ein großer Rest -- "zehntausend Pfund." Von diesem
Reste geht sie aus. Nicht allein in der Weise, daß sie zum Bewußtsein bringt,
was alles noch zu thun ist, was offenbar viel wirksamer ist, als wenn einer
betrachtet, was er schon gethan hat, sondern indem sie lehrt, daß Gottes
Barmherzigkeit denen gegenüber, die Buße thun, das heißt, die die Lage der
Dinge mit Beschämung anerkennen und das lebhafteste Verlangen haben, zu
bessern und gut zu machen, was sie irgend können, Nachsicht üben wolle.
Und zwar um desselben Erlösers willen, der die größte That der Liebe dnrch
seinen Tod am Kreuze gethan hat.

Die christliche Ethik, von der ich hier ein paar Grundlinien gezeichnet
habe, ist also weit davon entfernt, eine verschwommene, gefühlsselige Welt¬
anschauung darzustellen, die mit den wirklichen Dingen nichts zu thun hat,
sondern sie ist eine Pflichtenlehre, der ganz bestimmte Aufgaben gestellt sind,
und die mit einer Kraft zur That ausgerüstet ist, wie sie größer nicht gedacht
werden kann. Aber die Wirkung dieser Kraft ist an Voraussetzungen gebunden.
Wer der christlichen Moral ihren Glaubensuutergrund nimmt, nimmt ihr das
Leben. Das, was übrig bleibt, erscheint den widersittlichen Kräften des Lebens
gegenüber schwach. Auch ist die christliche Ethik da ohne Wirkung, wo der
sittliche Ernst fehlt, wo man sich mit einer formalen Gesetzmäßigkeit seines
Handelns begnügt, wo die Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit des sittlichen Urteils
vermißt wird. Der Boden, den das göttliche Gebot vorfindet, ist keinesfalls
gleichgiltig; es bleibt, auf ungeeigneten Boden gebracht, ebenso wirkungslos
wie das Weizenkorn, das ans den Weg fiel. Da nun der Boden nicht nach
Belieben geschaffen, die Umstünde nicht durch Vorschriften oder Wünsche ge-


Die christliche Ethik in der Gegenwart

Einen Antrieb zum Guten entnimmt die christliche Ethik ferner daraus,
daß das sittliche Ideal in konkreter Gestalt in der Person des Erlösers, als
„des schönsten der Menschenkinder," dargestellt wird. Dies ist von großer
pädagogischer Bedeutung. Wenn Cieero schreibt: Wenn man die Tugenden
leibhaftig sehen könnte, so würden sie eine große Liebe zu ihrer Schön¬
heit einflößen, so giebt die christliche Ethik das leibhaftige Bild im Vorbilde
des Meisters. Dieser tritt dem Jünger gegenüber nicht fordernd, sondern
gebend, als ein Wohlthäter, der den Menschen aus tiefster Not erlöst und in
die höchste Glückseligkeit versetzt. Daß sein Gebot erfüllt werde, gebietet also
nicht allein der Wert dieses Gebots, sondern auch die brennende Pflicht der
Dankbarkeit. Das sind „feurige Kohlen auf dem Haupte," ein Antrieb aller-
stärkster Art. Thu es um meinetwillen! ist sein Gebot, du darfst ein weniges
von der großen Pflicht der Dankbarkeit, die auf dir liegt, abtragen, wenn du
mein Gebot erfüllst.

Endlich richtet die christliche Ethik die Aufmerksamkeit nicht auf einen ein¬
zelnen Fall oder eine gedachte Reihe von Fällen, sondern auf die Summe
aller Handlungen und kommt zu dem Schlüsse, daß diese Summe nicht zu
erfüllen ist. Es bleibt ein großer Rest — „zehntausend Pfund." Von diesem
Reste geht sie aus. Nicht allein in der Weise, daß sie zum Bewußtsein bringt,
was alles noch zu thun ist, was offenbar viel wirksamer ist, als wenn einer
betrachtet, was er schon gethan hat, sondern indem sie lehrt, daß Gottes
Barmherzigkeit denen gegenüber, die Buße thun, das heißt, die die Lage der
Dinge mit Beschämung anerkennen und das lebhafteste Verlangen haben, zu
bessern und gut zu machen, was sie irgend können, Nachsicht üben wolle.
Und zwar um desselben Erlösers willen, der die größte That der Liebe dnrch
seinen Tod am Kreuze gethan hat.

Die christliche Ethik, von der ich hier ein paar Grundlinien gezeichnet
habe, ist also weit davon entfernt, eine verschwommene, gefühlsselige Welt¬
anschauung darzustellen, die mit den wirklichen Dingen nichts zu thun hat,
sondern sie ist eine Pflichtenlehre, der ganz bestimmte Aufgaben gestellt sind,
und die mit einer Kraft zur That ausgerüstet ist, wie sie größer nicht gedacht
werden kann. Aber die Wirkung dieser Kraft ist an Voraussetzungen gebunden.
Wer der christlichen Moral ihren Glaubensuutergrund nimmt, nimmt ihr das
Leben. Das, was übrig bleibt, erscheint den widersittlichen Kräften des Lebens
gegenüber schwach. Auch ist die christliche Ethik da ohne Wirkung, wo der
sittliche Ernst fehlt, wo man sich mit einer formalen Gesetzmäßigkeit seines
Handelns begnügt, wo die Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit des sittlichen Urteils
vermißt wird. Der Boden, den das göttliche Gebot vorfindet, ist keinesfalls
gleichgiltig; es bleibt, auf ungeeigneten Boden gebracht, ebenso wirkungslos
wie das Weizenkorn, das ans den Weg fiel. Da nun der Boden nicht nach
Belieben geschaffen, die Umstünde nicht durch Vorschriften oder Wünsche ge-


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[0206] Die christliche Ethik in der Gegenwart Einen Antrieb zum Guten entnimmt die christliche Ethik ferner daraus, daß das sittliche Ideal in konkreter Gestalt in der Person des Erlösers, als „des schönsten der Menschenkinder," dargestellt wird. Dies ist von großer pädagogischer Bedeutung. Wenn Cieero schreibt: Wenn man die Tugenden leibhaftig sehen könnte, so würden sie eine große Liebe zu ihrer Schön¬ heit einflößen, so giebt die christliche Ethik das leibhaftige Bild im Vorbilde des Meisters. Dieser tritt dem Jünger gegenüber nicht fordernd, sondern gebend, als ein Wohlthäter, der den Menschen aus tiefster Not erlöst und in die höchste Glückseligkeit versetzt. Daß sein Gebot erfüllt werde, gebietet also nicht allein der Wert dieses Gebots, sondern auch die brennende Pflicht der Dankbarkeit. Das sind „feurige Kohlen auf dem Haupte," ein Antrieb aller- stärkster Art. Thu es um meinetwillen! ist sein Gebot, du darfst ein weniges von der großen Pflicht der Dankbarkeit, die auf dir liegt, abtragen, wenn du mein Gebot erfüllst. Endlich richtet die christliche Ethik die Aufmerksamkeit nicht auf einen ein¬ zelnen Fall oder eine gedachte Reihe von Fällen, sondern auf die Summe aller Handlungen und kommt zu dem Schlüsse, daß diese Summe nicht zu erfüllen ist. Es bleibt ein großer Rest — „zehntausend Pfund." Von diesem Reste geht sie aus. Nicht allein in der Weise, daß sie zum Bewußtsein bringt, was alles noch zu thun ist, was offenbar viel wirksamer ist, als wenn einer betrachtet, was er schon gethan hat, sondern indem sie lehrt, daß Gottes Barmherzigkeit denen gegenüber, die Buße thun, das heißt, die die Lage der Dinge mit Beschämung anerkennen und das lebhafteste Verlangen haben, zu bessern und gut zu machen, was sie irgend können, Nachsicht üben wolle. Und zwar um desselben Erlösers willen, der die größte That der Liebe dnrch seinen Tod am Kreuze gethan hat. Die christliche Ethik, von der ich hier ein paar Grundlinien gezeichnet habe, ist also weit davon entfernt, eine verschwommene, gefühlsselige Welt¬ anschauung darzustellen, die mit den wirklichen Dingen nichts zu thun hat, sondern sie ist eine Pflichtenlehre, der ganz bestimmte Aufgaben gestellt sind, und die mit einer Kraft zur That ausgerüstet ist, wie sie größer nicht gedacht werden kann. Aber die Wirkung dieser Kraft ist an Voraussetzungen gebunden. Wer der christlichen Moral ihren Glaubensuutergrund nimmt, nimmt ihr das Leben. Das, was übrig bleibt, erscheint den widersittlichen Kräften des Lebens gegenüber schwach. Auch ist die christliche Ethik da ohne Wirkung, wo der sittliche Ernst fehlt, wo man sich mit einer formalen Gesetzmäßigkeit seines Handelns begnügt, wo die Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit des sittlichen Urteils vermißt wird. Der Boden, den das göttliche Gebot vorfindet, ist keinesfalls gleichgiltig; es bleibt, auf ungeeigneten Boden gebracht, ebenso wirkungslos wie das Weizenkorn, das ans den Weg fiel. Da nun der Boden nicht nach Belieben geschaffen, die Umstünde nicht durch Vorschriften oder Wünsche ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/206>, abgerufen am 08.01.2025.