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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Dynamik

Fabrikaten, der ohne Ausfuhr unverkäuflich bliebe, so groß wäre, daß der
überwiegende Teil der industriellen Anlagen und Arbeiter dadurch zu Grunde
gerichtet würde, von diesem Augenblick an hört die Industrie auf, eine Wohl¬
that des Landes zu sein und wird eine Gefahr. Es ist wie eine Hypertrophie
eines Organs; eine Stockung des Blutumlaufs kann den ganzen Körper
gefährden.

Zu dieser sozial-wirtschaftlichen Gefahr gesellt sich aber eine andre, die
im Fall eines Krieges eintreten kann. Ein Land wie England ist zum größten
Teil auf die Einfuhr von Nährmitteln von außen angewiesen. Sobald England
von fremden Mächten zur See blockirt werden kann, ist es vom Verhungern
bedroht. Die vier Millionen Menschen Londons, ein paar Wochen lang von
der Zufuhr zur See abgesperrt, müssen einer Lage anheimfallen, in der die
fürchterlichsten Beispiele von entfesselter Leidenschaft, die jemals bekannt ge¬
worden find, in Schatten gestellt werden. Aber auch Deutschland, von der
See abgesperrt und mit Österreich verbunden im Kampfe gegen Rußland, wäre
heute in einer verzweifelten Lage trotz seiner Kriegskraft. Denn unsre Jndustrie-
bevölkerung findet, von Jahr zu Jahr anwachsend, von Jahr zu Jahr weniger
ausreichende Nährmittel im eignen Lande.

Dieser äußern Gefahr sucht England vorzubeugen durch Stärkung seiner
Kriegsflotte, jener innern Gefahr, daß der Industrie der Absatz gebrechen
könnte, durch unermüdliche Erweiterung seines Kolonialbesitzes. Auch Deutsch¬
land hat seit zwölf Jahren begonnen, sich nach neuen Landerwerbnngen um¬
zuthun. Doch hat es bisher kein Kolonialland gefunden, das seiner Industrie
erheblichen Absatz bieten könnte, noch auch solches, wohin der Teil seiner
Bevölkerung auswandern könnte, der bisher in der Heimat aus irgend welchen
Gründen kein Genügen mehr fand. Solch ackerbauendes Kolonialland könnte
es nur dnrch einen Krieg, eine Eroberung erwerben. Die Landbevölkerung
drängt wie anderwärts, so auch bei uns, den Städten zu, und hier verwandelt
sie sich großenteils in industrielle Bevölkerung. Das übermäßige Angebot
industrieller Hände reizt das Kapital zu neuen industriellen Unternehmungen
und fördert so noch mehr die über das gesunde Maß hinausgehende Massen¬
produktion von Waren, die erst einen Markt suchen müssen und, wenn sie
keinen finden oder einen verlieren, soziale Mißstände und staatliche Gefahren
hervorrufen. So wächst der industrielle Wasserkopf bedenklich an, und die
Beine werden immer dünner, der Vrotacker, von dem sich das Stadtvolk nähren
sollte, wird im Verhältnis zu der Menge der Verzehrer immer ungenügender.

Man hat längst erkannt, daß das Volkswohl bei weitem am sichersten
auf der Grundlage des Ackerbaus ruht. Es wäre überflüssig heute noch den
längst gelieferten Beweis zu wiederholen, daß die Gesundheit des einzelnen
wie der Massen am besten in den einfachen Verhältnissen des Landlebens mit
seiner frischen Luft, seiner einfachen Kost, seiner Gleichmäßigkeit, seiner per-


Dynamik

Fabrikaten, der ohne Ausfuhr unverkäuflich bliebe, so groß wäre, daß der
überwiegende Teil der industriellen Anlagen und Arbeiter dadurch zu Grunde
gerichtet würde, von diesem Augenblick an hört die Industrie auf, eine Wohl¬
that des Landes zu sein und wird eine Gefahr. Es ist wie eine Hypertrophie
eines Organs; eine Stockung des Blutumlaufs kann den ganzen Körper
gefährden.

Zu dieser sozial-wirtschaftlichen Gefahr gesellt sich aber eine andre, die
im Fall eines Krieges eintreten kann. Ein Land wie England ist zum größten
Teil auf die Einfuhr von Nährmitteln von außen angewiesen. Sobald England
von fremden Mächten zur See blockirt werden kann, ist es vom Verhungern
bedroht. Die vier Millionen Menschen Londons, ein paar Wochen lang von
der Zufuhr zur See abgesperrt, müssen einer Lage anheimfallen, in der die
fürchterlichsten Beispiele von entfesselter Leidenschaft, die jemals bekannt ge¬
worden find, in Schatten gestellt werden. Aber auch Deutschland, von der
See abgesperrt und mit Österreich verbunden im Kampfe gegen Rußland, wäre
heute in einer verzweifelten Lage trotz seiner Kriegskraft. Denn unsre Jndustrie-
bevölkerung findet, von Jahr zu Jahr anwachsend, von Jahr zu Jahr weniger
ausreichende Nährmittel im eignen Lande.

Dieser äußern Gefahr sucht England vorzubeugen durch Stärkung seiner
Kriegsflotte, jener innern Gefahr, daß der Industrie der Absatz gebrechen
könnte, durch unermüdliche Erweiterung seines Kolonialbesitzes. Auch Deutsch¬
land hat seit zwölf Jahren begonnen, sich nach neuen Landerwerbnngen um¬
zuthun. Doch hat es bisher kein Kolonialland gefunden, das seiner Industrie
erheblichen Absatz bieten könnte, noch auch solches, wohin der Teil seiner
Bevölkerung auswandern könnte, der bisher in der Heimat aus irgend welchen
Gründen kein Genügen mehr fand. Solch ackerbauendes Kolonialland könnte
es nur dnrch einen Krieg, eine Eroberung erwerben. Die Landbevölkerung
drängt wie anderwärts, so auch bei uns, den Städten zu, und hier verwandelt
sie sich großenteils in industrielle Bevölkerung. Das übermäßige Angebot
industrieller Hände reizt das Kapital zu neuen industriellen Unternehmungen
und fördert so noch mehr die über das gesunde Maß hinausgehende Massen¬
produktion von Waren, die erst einen Markt suchen müssen und, wenn sie
keinen finden oder einen verlieren, soziale Mißstände und staatliche Gefahren
hervorrufen. So wächst der industrielle Wasserkopf bedenklich an, und die
Beine werden immer dünner, der Vrotacker, von dem sich das Stadtvolk nähren
sollte, wird im Verhältnis zu der Menge der Verzehrer immer ungenügender.

Man hat längst erkannt, daß das Volkswohl bei weitem am sichersten
auf der Grundlage des Ackerbaus ruht. Es wäre überflüssig heute noch den
längst gelieferten Beweis zu wiederholen, daß die Gesundheit des einzelnen
wie der Massen am besten in den einfachen Verhältnissen des Landlebens mit
seiner frischen Luft, seiner einfachen Kost, seiner Gleichmäßigkeit, seiner per-


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[0163] Dynamik Fabrikaten, der ohne Ausfuhr unverkäuflich bliebe, so groß wäre, daß der überwiegende Teil der industriellen Anlagen und Arbeiter dadurch zu Grunde gerichtet würde, von diesem Augenblick an hört die Industrie auf, eine Wohl¬ that des Landes zu sein und wird eine Gefahr. Es ist wie eine Hypertrophie eines Organs; eine Stockung des Blutumlaufs kann den ganzen Körper gefährden. Zu dieser sozial-wirtschaftlichen Gefahr gesellt sich aber eine andre, die im Fall eines Krieges eintreten kann. Ein Land wie England ist zum größten Teil auf die Einfuhr von Nährmitteln von außen angewiesen. Sobald England von fremden Mächten zur See blockirt werden kann, ist es vom Verhungern bedroht. Die vier Millionen Menschen Londons, ein paar Wochen lang von der Zufuhr zur See abgesperrt, müssen einer Lage anheimfallen, in der die fürchterlichsten Beispiele von entfesselter Leidenschaft, die jemals bekannt ge¬ worden find, in Schatten gestellt werden. Aber auch Deutschland, von der See abgesperrt und mit Österreich verbunden im Kampfe gegen Rußland, wäre heute in einer verzweifelten Lage trotz seiner Kriegskraft. Denn unsre Jndustrie- bevölkerung findet, von Jahr zu Jahr anwachsend, von Jahr zu Jahr weniger ausreichende Nährmittel im eignen Lande. Dieser äußern Gefahr sucht England vorzubeugen durch Stärkung seiner Kriegsflotte, jener innern Gefahr, daß der Industrie der Absatz gebrechen könnte, durch unermüdliche Erweiterung seines Kolonialbesitzes. Auch Deutsch¬ land hat seit zwölf Jahren begonnen, sich nach neuen Landerwerbnngen um¬ zuthun. Doch hat es bisher kein Kolonialland gefunden, das seiner Industrie erheblichen Absatz bieten könnte, noch auch solches, wohin der Teil seiner Bevölkerung auswandern könnte, der bisher in der Heimat aus irgend welchen Gründen kein Genügen mehr fand. Solch ackerbauendes Kolonialland könnte es nur dnrch einen Krieg, eine Eroberung erwerben. Die Landbevölkerung drängt wie anderwärts, so auch bei uns, den Städten zu, und hier verwandelt sie sich großenteils in industrielle Bevölkerung. Das übermäßige Angebot industrieller Hände reizt das Kapital zu neuen industriellen Unternehmungen und fördert so noch mehr die über das gesunde Maß hinausgehende Massen¬ produktion von Waren, die erst einen Markt suchen müssen und, wenn sie keinen finden oder einen verlieren, soziale Mißstände und staatliche Gefahren hervorrufen. So wächst der industrielle Wasserkopf bedenklich an, und die Beine werden immer dünner, der Vrotacker, von dem sich das Stadtvolk nähren sollte, wird im Verhältnis zu der Menge der Verzehrer immer ungenügender. Man hat längst erkannt, daß das Volkswohl bei weitem am sichersten auf der Grundlage des Ackerbaus ruht. Es wäre überflüssig heute noch den längst gelieferten Beweis zu wiederholen, daß die Gesundheit des einzelnen wie der Massen am besten in den einfachen Verhältnissen des Landlebens mit seiner frischen Luft, seiner einfachen Kost, seiner Gleichmäßigkeit, seiner per-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/163>, abgerufen am 08.01.2025.