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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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so kommt das aus den: Herzen, und wenn sich neulich am Sarge des Gro߬
herzogs Ludwig fast das ganze Land zusammenfand, so bezeugt auch das
die Thatsache, daß hier am Rhein ein im Volke wurzelndes Staatswesen vor¬
handen ist.

Die Regierung ist seit zwanzig Jahren reichstreu und wird in national¬
liberalem Sinne geführt; im deutschen Reichstage wie in den hessischen Stände-
lnmmern sitzen nationalliberale Abgeordnete. Der Freisinn kann nur in sehr
abgeschwächter Gestalt ankommen, die wenigen Ultramontanen werden überall
leicht niedergestimmt, konservative Kandidaten wurden hie und da einmal auf¬
gestellt, aber sie blieben in der Minderheit.

Regierung und Kammer überboten sich seit Beginn der liberalen Ära in
Gunstbezeigungen gegen die Juden. Ihre Schulen wurden vom Staate über¬
nommen und mit den christlichen Schulen zu Kommunalschulen verschmolzen;
der Judeulehrer wurde Kommunalschullehrer. Alle Schranken, mit denen sich
eine frühere gewitzigte Zeit gegen das Judentum vorgesehen hatte, wurden
niedergerissen. Man sah in dem Juden nur den gemißhandelten und unter¬
drückten Bruder, man konnte ihn nicht fest genug an das deutsche Bruder¬
herz drücken.

Das heißt: in tluZÄ. In xruxi war es noch nicht so schlimm, als es in
Preußen ist. Da der reich und nobel gewordne Jude gern nach Frankfurt a. M.
zieht, fo war die Zahl der studirenden Juden immer gering. Sie wurden
nach wie vor nur Ärzte und Anwälte, weil in diesen Verufsarten am schnellsten
zu verdienen ist. Das Lehrerpersonal an den Hochschulen, Gymnasien und Real¬
schulen Hessens ist noch heute nahezu judenrein; es giebt keinen jüdischen Richter,
noch weniger jüdische Verwaltungs-, Steuer- und Fvrstbeamte, auch sind in
der hessischen Division keine aktiven jüdischen Offiziere. Die meisten städtischen
Kasinos weigern sich grundsätzlich, einen Juden auszunehmen. Einige Aus¬
nahmen, die mau hie und da mit Juden macht, die ihr Judentum aufgegeben
zu haben scheinen, bestätigen die Regel. Auch weiß man sich gegen die Vor¬
dringlichkeit der Juden zu wehren. Mancher Stammtisch hat ein Schild mit
der Aufschrift "Besetze," d.i. hier darf kein Jude her. Die Bäder haben sich
gegen die am Samstag erfolgende Überflutung mit Juden durch ein besondres
Eintrittsgeld sür diesen Tag vorgesehen.

Heute haben wir in Hessen den vollständigen Antisemitismus; schon hat
er zwei Reichstagsmandate errungen, und er hofft zuversichtlich, bei der nächsten
Reichstagswahl das ganze Ländchen zu erobern. Überall mehren sich die
Abonnenten für den Bvckelscheu Reichsherold; überall finden unter ungeheuerm
Zusammenlauf Volksversammlungen statt. Die vorgeschlagnen Resolutionen
werden mit ungeheurer Mehrheit angenommen; viele Stunden weit kommen
die Bauern her, um Böckel und Zimmermann zu hören, und sind Feuer und
Flamme für diese Leute! Der das ganze Land bewegende Antisemitismus in


so kommt das aus den: Herzen, und wenn sich neulich am Sarge des Gro߬
herzogs Ludwig fast das ganze Land zusammenfand, so bezeugt auch das
die Thatsache, daß hier am Rhein ein im Volke wurzelndes Staatswesen vor¬
handen ist.

Die Regierung ist seit zwanzig Jahren reichstreu und wird in national¬
liberalem Sinne geführt; im deutschen Reichstage wie in den hessischen Stände-
lnmmern sitzen nationalliberale Abgeordnete. Der Freisinn kann nur in sehr
abgeschwächter Gestalt ankommen, die wenigen Ultramontanen werden überall
leicht niedergestimmt, konservative Kandidaten wurden hie und da einmal auf¬
gestellt, aber sie blieben in der Minderheit.

Regierung und Kammer überboten sich seit Beginn der liberalen Ära in
Gunstbezeigungen gegen die Juden. Ihre Schulen wurden vom Staate über¬
nommen und mit den christlichen Schulen zu Kommunalschulen verschmolzen;
der Judeulehrer wurde Kommunalschullehrer. Alle Schranken, mit denen sich
eine frühere gewitzigte Zeit gegen das Judentum vorgesehen hatte, wurden
niedergerissen. Man sah in dem Juden nur den gemißhandelten und unter¬
drückten Bruder, man konnte ihn nicht fest genug an das deutsche Bruder¬
herz drücken.

Das heißt: in tluZÄ. In xruxi war es noch nicht so schlimm, als es in
Preußen ist. Da der reich und nobel gewordne Jude gern nach Frankfurt a. M.
zieht, fo war die Zahl der studirenden Juden immer gering. Sie wurden
nach wie vor nur Ärzte und Anwälte, weil in diesen Verufsarten am schnellsten
zu verdienen ist. Das Lehrerpersonal an den Hochschulen, Gymnasien und Real¬
schulen Hessens ist noch heute nahezu judenrein; es giebt keinen jüdischen Richter,
noch weniger jüdische Verwaltungs-, Steuer- und Fvrstbeamte, auch sind in
der hessischen Division keine aktiven jüdischen Offiziere. Die meisten städtischen
Kasinos weigern sich grundsätzlich, einen Juden auszunehmen. Einige Aus¬
nahmen, die mau hie und da mit Juden macht, die ihr Judentum aufgegeben
zu haben scheinen, bestätigen die Regel. Auch weiß man sich gegen die Vor¬
dringlichkeit der Juden zu wehren. Mancher Stammtisch hat ein Schild mit
der Aufschrift „Besetze," d.i. hier darf kein Jude her. Die Bäder haben sich
gegen die am Samstag erfolgende Überflutung mit Juden durch ein besondres
Eintrittsgeld sür diesen Tag vorgesehen.

Heute haben wir in Hessen den vollständigen Antisemitismus; schon hat
er zwei Reichstagsmandate errungen, und er hofft zuversichtlich, bei der nächsten
Reichstagswahl das ganze Ländchen zu erobern. Überall mehren sich die
Abonnenten für den Bvckelscheu Reichsherold; überall finden unter ungeheuerm
Zusammenlauf Volksversammlungen statt. Die vorgeschlagnen Resolutionen
werden mit ungeheurer Mehrheit angenommen; viele Stunden weit kommen
die Bauern her, um Böckel und Zimmermann zu hören, und sind Feuer und
Flamme für diese Leute! Der das ganze Land bewegende Antisemitismus in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/155>, abgerufen am 08.01.2025.