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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Jenny Und

Der schöne, poetisch belebte und individuelle Klang der Stimme wirkte natürlich
aus das große Publikum am stärkstem In richtiger Schätzung dieses Macht¬
mittels und seines Ortes Pflegte daher Jenny Lind den Liedgesang, wie es
bisher niemand unter den großen Sängerinnen und Säugern, die sich enrvpmsche
Berühmtheit erworben haben, gethan hatte. In der italienischen Schule auf¬
gewachsen, lag ihnen dieser wesentlich deutsche Kunstzweig sern. Mit dem
Zeitpunkte, wo Jenny Lind dafür eintrat, beginnt ein neuer Aufschwung des
deutschen Liedes. Sänger, Publikum und Komponisten wenden sich ihm mit
neuem und verdoppeltem Eiser zu. Sie selbst hat in diese Wendung der Dinge
denn nicht weiter eingegriffen. Dies zeigt die Wahl ihrer Lieder, besonders ihr
Verhältniß zu Schumann, vou dem sie nnr einige anmutige Stücke wie "An
den Sonnenschein," "Übern Garten durch die Lüfte" fest in ihre Konzertliste auf¬
nahm. Ohne Zweifel ließ sie sich in ihre" Neigungen und in ihrem Urteil
hier durch die Rücksichten auf Singbarkeit und Daukbarkeit leiten, Non diesem
Staudpunkte aus erklärt es sich auch, daß sie neben einigen Liebliugsstücken von
Mendelssohn und Taubert auch Lieder von Mangold und Handhartinger bevor¬
zugte, deren Kunstwert unbedeutend ist. Einen schöne" Beweis ihrer Heimath-
liebe gab sie in ihrer Vorliebe sür schwedische Volkslieder und für die Lieder
Lindblads. Sie erwarb sich damit zugleich einen Verdienst um die skandinavische
Musik. E. Grieg 'und Genossen sind außer N. Gabe auch der Jenny Lind
verpflichtet, daß der Boden für ihre eigentümliche Musik so gut vorbereitet war.

Wir haben heute Sänger und Sängerinnen, deren Leistungsfähigkeit über
das bischen Lied nicht hinausreicht, und die vorgeschobene Stellung, die das Lied
im öffentlichen Musikleben einnimmt, trägt ohne Zweifel zu dem immer weitern
Verfall der Gesangskunst in Deutschland viel mit bei. In den vierziger Jahren
war es noch unmöglich, daß sich jemand durch bloßen Liedergesaug Ansehen
erworben hätte. Daß Jenny Lind mehr konnte, war ihrem Liedcrvortrag selbst
anzumerken. Sie bewies das außerdem durch ihre Leistungen auf der Bühne.
Die Regimentstochter, die Nachtwandlerin und andre italienische Partien, die
man in Deutschland als ein auseinanderfaltendes Gemisch von Trivialitäten
und Kunststücken ansah, erhielten Einheit und Charakter, wenn sie Jenny Lind
sang. Es wurden durch und durch sympathische Figuren, und an die Schwierig¬
keiten des Gesanges, an Läufer, Gänge, Verzierungen dachte gar niemand. Sie
stellte sich nicht auf die Fußspitzen, wenn es in die hohen Töne ging, bot weder
mit ihrem Hals noch andern Körperteilen das Schauspiel eines Gänserichs, wenn
sie an Kraftleistungen der Virtuosität kam. Alles machte sich spielend; nur die
Kenner stutzten, staunten und gewahrten mit Bewundrung, daß sie hier eine
Künstlerin vor sich hatten, der anch die schwierigsten Aufgaben der Gesangs-
kunst um Mittel des seelischen Ausdrucks waren. Das war das Ideal der
Virtuosität, wie wir es bei deutschen Künstlern seitdem nur auf instrumentalem
Gebiete, z. B. bei I. Joachim, wieder erlebt haben.


Jenny Und

Der schöne, poetisch belebte und individuelle Klang der Stimme wirkte natürlich
aus das große Publikum am stärkstem In richtiger Schätzung dieses Macht¬
mittels und seines Ortes Pflegte daher Jenny Lind den Liedgesang, wie es
bisher niemand unter den großen Sängerinnen und Säugern, die sich enrvpmsche
Berühmtheit erworben haben, gethan hatte. In der italienischen Schule auf¬
gewachsen, lag ihnen dieser wesentlich deutsche Kunstzweig sern. Mit dem
Zeitpunkte, wo Jenny Lind dafür eintrat, beginnt ein neuer Aufschwung des
deutschen Liedes. Sänger, Publikum und Komponisten wenden sich ihm mit
neuem und verdoppeltem Eiser zu. Sie selbst hat in diese Wendung der Dinge
denn nicht weiter eingegriffen. Dies zeigt die Wahl ihrer Lieder, besonders ihr
Verhältniß zu Schumann, vou dem sie nnr einige anmutige Stücke wie „An
den Sonnenschein," „Übern Garten durch die Lüfte" fest in ihre Konzertliste auf¬
nahm. Ohne Zweifel ließ sie sich in ihre» Neigungen und in ihrem Urteil
hier durch die Rücksichten auf Singbarkeit und Daukbarkeit leiten, Non diesem
Staudpunkte aus erklärt es sich auch, daß sie neben einigen Liebliugsstücken von
Mendelssohn und Taubert auch Lieder von Mangold und Handhartinger bevor¬
zugte, deren Kunstwert unbedeutend ist. Einen schöne» Beweis ihrer Heimath-
liebe gab sie in ihrer Vorliebe sür schwedische Volkslieder und für die Lieder
Lindblads. Sie erwarb sich damit zugleich einen Verdienst um die skandinavische
Musik. E. Grieg 'und Genossen sind außer N. Gabe auch der Jenny Lind
verpflichtet, daß der Boden für ihre eigentümliche Musik so gut vorbereitet war.

Wir haben heute Sänger und Sängerinnen, deren Leistungsfähigkeit über
das bischen Lied nicht hinausreicht, und die vorgeschobene Stellung, die das Lied
im öffentlichen Musikleben einnimmt, trägt ohne Zweifel zu dem immer weitern
Verfall der Gesangskunst in Deutschland viel mit bei. In den vierziger Jahren
war es noch unmöglich, daß sich jemand durch bloßen Liedergesaug Ansehen
erworben hätte. Daß Jenny Lind mehr konnte, war ihrem Liedcrvortrag selbst
anzumerken. Sie bewies das außerdem durch ihre Leistungen auf der Bühne.
Die Regimentstochter, die Nachtwandlerin und andre italienische Partien, die
man in Deutschland als ein auseinanderfaltendes Gemisch von Trivialitäten
und Kunststücken ansah, erhielten Einheit und Charakter, wenn sie Jenny Lind
sang. Es wurden durch und durch sympathische Figuren, und an die Schwierig¬
keiten des Gesanges, an Läufer, Gänge, Verzierungen dachte gar niemand. Sie
stellte sich nicht auf die Fußspitzen, wenn es in die hohen Töne ging, bot weder
mit ihrem Hals noch andern Körperteilen das Schauspiel eines Gänserichs, wenn
sie an Kraftleistungen der Virtuosität kam. Alles machte sich spielend; nur die
Kenner stutzten, staunten und gewahrten mit Bewundrung, daß sie hier eine
Künstlerin vor sich hatten, der anch die schwierigsten Aufgaben der Gesangs-
kunst um Mittel des seelischen Ausdrucks waren. Das war das Ideal der
Virtuosität, wie wir es bei deutschen Künstlern seitdem nur auf instrumentalem
Gebiete, z. B. bei I. Joachim, wieder erlebt haben.


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[0094] Jenny Und Der schöne, poetisch belebte und individuelle Klang der Stimme wirkte natürlich aus das große Publikum am stärkstem In richtiger Schätzung dieses Macht¬ mittels und seines Ortes Pflegte daher Jenny Lind den Liedgesang, wie es bisher niemand unter den großen Sängerinnen und Säugern, die sich enrvpmsche Berühmtheit erworben haben, gethan hatte. In der italienischen Schule auf¬ gewachsen, lag ihnen dieser wesentlich deutsche Kunstzweig sern. Mit dem Zeitpunkte, wo Jenny Lind dafür eintrat, beginnt ein neuer Aufschwung des deutschen Liedes. Sänger, Publikum und Komponisten wenden sich ihm mit neuem und verdoppeltem Eiser zu. Sie selbst hat in diese Wendung der Dinge denn nicht weiter eingegriffen. Dies zeigt die Wahl ihrer Lieder, besonders ihr Verhältniß zu Schumann, vou dem sie nnr einige anmutige Stücke wie „An den Sonnenschein," „Übern Garten durch die Lüfte" fest in ihre Konzertliste auf¬ nahm. Ohne Zweifel ließ sie sich in ihre» Neigungen und in ihrem Urteil hier durch die Rücksichten auf Singbarkeit und Daukbarkeit leiten, Non diesem Staudpunkte aus erklärt es sich auch, daß sie neben einigen Liebliugsstücken von Mendelssohn und Taubert auch Lieder von Mangold und Handhartinger bevor¬ zugte, deren Kunstwert unbedeutend ist. Einen schöne» Beweis ihrer Heimath- liebe gab sie in ihrer Vorliebe sür schwedische Volkslieder und für die Lieder Lindblads. Sie erwarb sich damit zugleich einen Verdienst um die skandinavische Musik. E. Grieg 'und Genossen sind außer N. Gabe auch der Jenny Lind verpflichtet, daß der Boden für ihre eigentümliche Musik so gut vorbereitet war. Wir haben heute Sänger und Sängerinnen, deren Leistungsfähigkeit über das bischen Lied nicht hinausreicht, und die vorgeschobene Stellung, die das Lied im öffentlichen Musikleben einnimmt, trägt ohne Zweifel zu dem immer weitern Verfall der Gesangskunst in Deutschland viel mit bei. In den vierziger Jahren war es noch unmöglich, daß sich jemand durch bloßen Liedergesaug Ansehen erworben hätte. Daß Jenny Lind mehr konnte, war ihrem Liedcrvortrag selbst anzumerken. Sie bewies das außerdem durch ihre Leistungen auf der Bühne. Die Regimentstochter, die Nachtwandlerin und andre italienische Partien, die man in Deutschland als ein auseinanderfaltendes Gemisch von Trivialitäten und Kunststücken ansah, erhielten Einheit und Charakter, wenn sie Jenny Lind sang. Es wurden durch und durch sympathische Figuren, und an die Schwierig¬ keiten des Gesanges, an Läufer, Gänge, Verzierungen dachte gar niemand. Sie stellte sich nicht auf die Fußspitzen, wenn es in die hohen Töne ging, bot weder mit ihrem Hals noch andern Körperteilen das Schauspiel eines Gänserichs, wenn sie an Kraftleistungen der Virtuosität kam. Alles machte sich spielend; nur die Kenner stutzten, staunten und gewahrten mit Bewundrung, daß sie hier eine Künstlerin vor sich hatten, der anch die schwierigsten Aufgaben der Gesangs- kunst um Mittel des seelischen Ausdrucks waren. Das war das Ideal der Virtuosität, wie wir es bei deutschen Künstlern seitdem nur auf instrumentalem Gebiete, z. B. bei I. Joachim, wieder erlebt haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/94>, abgerufen am 23.07.2024.