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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Teil in die Arme der Sozialdemokratie getrieben wird. Gewiß will er die Sozial-
demokratie nicht, so lange seine eigne Existenz gesichert erscheint. Aber von dem
Augenblick an, wo ihm nicht mehr viel zu verlieren übrig bleibt, kann er dnrch
die Sozialdemokratie nur zu gewinnen glauben; denn ihre Unmöglichkeit sieht
nicht ein, wer in ihr seinen Vorteil zu finden hofft. Daß aber schließlich der
Mittelstand als solcher aufhört, daß nur wenige Reiche der große" Masse des
verarmten Volkes gegenüberstehen, das ist der offen ausgesprochene Wunsch der
Sozialdcmokrcitie, denn wenige sind eher zu überwinden als viele. Der Mittel¬
stand bildet die Vermittlung zwischen den obersten Ständen und dem vierten
Stande, ohne die sie sich mit voller Schroffheit gegenüberstehen müßten.

Es liegt also im Interesse der Erhaltung der heutigen Gesellschaft, den
Mittelstand möglichst von Allslagen zu entlasten, ihn so viel als möglich zu
unterstützen, um ihn, wenn notwendig, als Masse der Masse des vierten Standes
gegenüberzustellen. Der Mittelstand sollte durch die Steuergesetzgebung be¬
günstigt werden. Nur ein größerer Erlverb und ein höheres Einkommen sollten
besteuert werden, diese dann aber im Verhältnis viel stärker, als es heilte ge¬
schieht. Die indirekte Besteuerung, die gerade die untern und mittlern Kreise
am meisten trifft, müßte möglichst beschränkt werdeu; vielleicht könnte sie in
dem Maße aufhören, als der Staat die Einfuhr des Landes an sich zieht. Der
Mittelstand müßte aber auch vor allem vor der Ausbeutung durch das Gro߬
kapital geschützt werden. Einerseits könnte das schon dadurch geschehen, daß
der Staat durch Übernahme der Einfuhr die Preise der notwendigsten Güter
regelte, andrerseits müßten staatliche Vorschnßkassen errichtet werden, die nicht
auf Gewinn abzielen und deu Mittelstand, vor alleil den Handwerker und
Bauern, in jeder Beziehung gegen das Großkapital zu unterstützen hätten.
Auch müßten die kleinern Erbschaften durch höhere Besteuerung der großen ent¬
lastet werden.

Wahrscheinlich werden die meisten meiner Vorschläge als zu ideal und als
unausführbar bezeichnet werden. Wie weit sie ausführbar sind, können nur prak¬
tische Versuche lehren. Aber selbst wenn sie nnr sehr teilweise ausführbar
wären, hat doch jedes richtige Ideal großen praktischen Wert. Erstens weil es
die Richtung der Entwicklung in der Zukunft weist, sodann, weil, wenn man
nicht mehr, als möglich ist, als allgemeines Ziel hinstellt, mau sicher in der
Ausführung sehr stark uuter der Möglichkeit bleibell wird. Ein all Idealen
armes Zeitalter wird auch all Energie arm sein. Das heutige Bestreben, alle
Ideale zu vernichten, kann nur dazu führen, alles frische und freudige Streben
zu vernichten.

Es mag daher sein, daß ich vielleicht das Bildungsziel des vierten Standes
(der praktischen Möglichkeit nach) zu hoch gesteckt habe, die möglichste Verwirk¬
lichung muß deswegen doch angestrebt werden. Die Hebung allein der mate¬
riellen Lage der untern Klassen würde zu einem Ungleichgewicht mit der Bildung


Teil in die Arme der Sozialdemokratie getrieben wird. Gewiß will er die Sozial-
demokratie nicht, so lange seine eigne Existenz gesichert erscheint. Aber von dem
Augenblick an, wo ihm nicht mehr viel zu verlieren übrig bleibt, kann er dnrch
die Sozialdemokratie nur zu gewinnen glauben; denn ihre Unmöglichkeit sieht
nicht ein, wer in ihr seinen Vorteil zu finden hofft. Daß aber schließlich der
Mittelstand als solcher aufhört, daß nur wenige Reiche der große» Masse des
verarmten Volkes gegenüberstehen, das ist der offen ausgesprochene Wunsch der
Sozialdcmokrcitie, denn wenige sind eher zu überwinden als viele. Der Mittel¬
stand bildet die Vermittlung zwischen den obersten Ständen und dem vierten
Stande, ohne die sie sich mit voller Schroffheit gegenüberstehen müßten.

Es liegt also im Interesse der Erhaltung der heutigen Gesellschaft, den
Mittelstand möglichst von Allslagen zu entlasten, ihn so viel als möglich zu
unterstützen, um ihn, wenn notwendig, als Masse der Masse des vierten Standes
gegenüberzustellen. Der Mittelstand sollte durch die Steuergesetzgebung be¬
günstigt werden. Nur ein größerer Erlverb und ein höheres Einkommen sollten
besteuert werden, diese dann aber im Verhältnis viel stärker, als es heilte ge¬
schieht. Die indirekte Besteuerung, die gerade die untern und mittlern Kreise
am meisten trifft, müßte möglichst beschränkt werdeu; vielleicht könnte sie in
dem Maße aufhören, als der Staat die Einfuhr des Landes an sich zieht. Der
Mittelstand müßte aber auch vor allem vor der Ausbeutung durch das Gro߬
kapital geschützt werden. Einerseits könnte das schon dadurch geschehen, daß
der Staat durch Übernahme der Einfuhr die Preise der notwendigsten Güter
regelte, andrerseits müßten staatliche Vorschnßkassen errichtet werden, die nicht
auf Gewinn abzielen und deu Mittelstand, vor alleil den Handwerker und
Bauern, in jeder Beziehung gegen das Großkapital zu unterstützen hätten.
Auch müßten die kleinern Erbschaften durch höhere Besteuerung der großen ent¬
lastet werden.

Wahrscheinlich werden die meisten meiner Vorschläge als zu ideal und als
unausführbar bezeichnet werden. Wie weit sie ausführbar sind, können nur prak¬
tische Versuche lehren. Aber selbst wenn sie nnr sehr teilweise ausführbar
wären, hat doch jedes richtige Ideal großen praktischen Wert. Erstens weil es
die Richtung der Entwicklung in der Zukunft weist, sodann, weil, wenn man
nicht mehr, als möglich ist, als allgemeines Ziel hinstellt, mau sicher in der
Ausführung sehr stark uuter der Möglichkeit bleibell wird. Ein all Idealen
armes Zeitalter wird auch all Energie arm sein. Das heutige Bestreben, alle
Ideale zu vernichten, kann nur dazu führen, alles frische und freudige Streben
zu vernichten.

Es mag daher sein, daß ich vielleicht das Bildungsziel des vierten Standes
(der praktischen Möglichkeit nach) zu hoch gesteckt habe, die möglichste Verwirk¬
lichung muß deswegen doch angestrebt werden. Die Hebung allein der mate¬
riellen Lage der untern Klassen würde zu einem Ungleichgewicht mit der Bildung


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[0072] Teil in die Arme der Sozialdemokratie getrieben wird. Gewiß will er die Sozial- demokratie nicht, so lange seine eigne Existenz gesichert erscheint. Aber von dem Augenblick an, wo ihm nicht mehr viel zu verlieren übrig bleibt, kann er dnrch die Sozialdemokratie nur zu gewinnen glauben; denn ihre Unmöglichkeit sieht nicht ein, wer in ihr seinen Vorteil zu finden hofft. Daß aber schließlich der Mittelstand als solcher aufhört, daß nur wenige Reiche der große» Masse des verarmten Volkes gegenüberstehen, das ist der offen ausgesprochene Wunsch der Sozialdcmokrcitie, denn wenige sind eher zu überwinden als viele. Der Mittel¬ stand bildet die Vermittlung zwischen den obersten Ständen und dem vierten Stande, ohne die sie sich mit voller Schroffheit gegenüberstehen müßten. Es liegt also im Interesse der Erhaltung der heutigen Gesellschaft, den Mittelstand möglichst von Allslagen zu entlasten, ihn so viel als möglich zu unterstützen, um ihn, wenn notwendig, als Masse der Masse des vierten Standes gegenüberzustellen. Der Mittelstand sollte durch die Steuergesetzgebung be¬ günstigt werden. Nur ein größerer Erlverb und ein höheres Einkommen sollten besteuert werden, diese dann aber im Verhältnis viel stärker, als es heilte ge¬ schieht. Die indirekte Besteuerung, die gerade die untern und mittlern Kreise am meisten trifft, müßte möglichst beschränkt werdeu; vielleicht könnte sie in dem Maße aufhören, als der Staat die Einfuhr des Landes an sich zieht. Der Mittelstand müßte aber auch vor allem vor der Ausbeutung durch das Gro߬ kapital geschützt werden. Einerseits könnte das schon dadurch geschehen, daß der Staat durch Übernahme der Einfuhr die Preise der notwendigsten Güter regelte, andrerseits müßten staatliche Vorschnßkassen errichtet werden, die nicht auf Gewinn abzielen und deu Mittelstand, vor alleil den Handwerker und Bauern, in jeder Beziehung gegen das Großkapital zu unterstützen hätten. Auch müßten die kleinern Erbschaften durch höhere Besteuerung der großen ent¬ lastet werden. Wahrscheinlich werden die meisten meiner Vorschläge als zu ideal und als unausführbar bezeichnet werden. Wie weit sie ausführbar sind, können nur prak¬ tische Versuche lehren. Aber selbst wenn sie nnr sehr teilweise ausführbar wären, hat doch jedes richtige Ideal großen praktischen Wert. Erstens weil es die Richtung der Entwicklung in der Zukunft weist, sodann, weil, wenn man nicht mehr, als möglich ist, als allgemeines Ziel hinstellt, mau sicher in der Ausführung sehr stark uuter der Möglichkeit bleibell wird. Ein all Idealen armes Zeitalter wird auch all Energie arm sein. Das heutige Bestreben, alle Ideale zu vernichten, kann nur dazu führen, alles frische und freudige Streben zu vernichten. Es mag daher sein, daß ich vielleicht das Bildungsziel des vierten Standes (der praktischen Möglichkeit nach) zu hoch gesteckt habe, die möglichste Verwirk¬ lichung muß deswegen doch angestrebt werden. Die Hebung allein der mate¬ riellen Lage der untern Klassen würde zu einem Ungleichgewicht mit der Bildung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/72>, abgerufen am 23.07.2024.