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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Bekämpfung der Sozialdemokratie vom psychologischen Standpunkt

dadurch außerdem gesellschaftliche Selbstbeherrschung und Haltung lernen; Selbst¬
beherrschung ist aber das erste Erfordernis zu jedem Fortschritt. Durch den
gegenseitigen Meinungsaustausch im Verkehr würden auch nicht nur die Be¬
dürfnisse des vierte" Standes viel bekannter werden, es würden auch die Gegen¬
sätze vielmehr abgeschliffen, es würde gegenseitige Achtung und selbst Freund¬
schaft erzeugt werdet!. Denn je näher man sich kennen lernt, je mehr man ans
die einzelnen Beweggründe der Handlungsweise eines Menschen eingeht, desto
mehr gelangt man zu der Erkenntnis, daß ein bestimmter Charakter nicht anders
sein kann, als er ist, daß er das Ergebnis der Verhältnisse, Erlebnisse und
Anlagen ist. Man lernt schwächet" ertraget!, Vorzüge schätzen; stößt man auf
einen gar zu verschiednen Charakter, so lernt man sich ohne Haß meiden, so¬
bald man die innere Notwendigkeit eingesehen hat. Dieser Verkehr der bessern
Stände mit dem vierten Stande soll aber nicht in der Weise erfolgen, daß
Mitglieder des vierten Standes zu den Gesellschaften der bessern Stände heran¬
gezogen werden; das wäre wieder nur ein Almosen, eine Gnade sür den vierten
Stand. Seine Mitglieder würden in einer Ecke stehen, stumm bleiben und
froh sein, wenn sie wieder fortgehen könnten. Der Verkehr müßte vielmehr so
eingerichtet werden, daß er von beiden Seiten ausginge, daß gewisse gesellige
Zusammenkünfte eingerichtet werden, in denen anständige Angehörige aller
Stände Zutritt haben und in freien und gleichberechtigten Verkehr mit einander
träten. Es würde das große Schwierigkeiten bereiten; vor allem müßte das
Mißtrauen des vierten Standes durch die bessern Stände überwunden werden.
Es würde aufangs großer gegenseitiger Zwang, Befremdung und Ungeschick in
der gesellschaftliche" Behandlung auf beiden Seiten herrschen. Aber eines Ver¬
suches Wären solche Gesellschaften wert, denn sie würden manche Mißverständ¬
nisse zerstreuen, manche Gegensätze mildern. Gleichzeitig sollte aber die Bildung
des vierten Standes überhaupt gehoben werden, um den Verkehr mit den bessern
Ständen zu erleichtern.

Schließlich müßte die Sozialdemokratie auch durch Hebung des Mittel¬
standes, besonders des weniger vermögenden, bekämpft werden. Gerade der
Mittelstand ist es, der unter allen Auflagen und Preisveräuderungen am meisten
zu leiden hat und der mit feinem kleinen Kapital am meisten dnrch die Kon¬
kurrenz mit dem Großkapital gedrückt wird. Und doch ist er es, der die eigent¬
liche Kraft des Staates ausmacht, wie die Geschichte aller Länder beweist; denn
er hat die verbreitetste Bildung und ist sittlich und Physisch am wenigsten
verdorben, weil er keinen großen Reichtum hat, der ihm große Ausschweifungen
erlaubte. Außerdem ist er, wie gesagt, am meisten dabei interessirt, daß Staat
und Gesellschaft blühen, weil er unter alle" wirtschaftlichen Krise" und Auf¬
läget! am meisten leidet. Wird er noch weiter in seinen Lebensbedingungen herab¬
gedrückt, so kann es gar nicht ausbleiben und ist wohl schon jetzt in gewissem Maße
der Fall, daß die Unzufriedenheit in ihm eine solche Größe erreicht, daß ein großer


Die Bekämpfung der Sozialdemokratie vom psychologischen Standpunkt

dadurch außerdem gesellschaftliche Selbstbeherrschung und Haltung lernen; Selbst¬
beherrschung ist aber das erste Erfordernis zu jedem Fortschritt. Durch den
gegenseitigen Meinungsaustausch im Verkehr würden auch nicht nur die Be¬
dürfnisse des vierte» Standes viel bekannter werden, es würden auch die Gegen¬
sätze vielmehr abgeschliffen, es würde gegenseitige Achtung und selbst Freund¬
schaft erzeugt werdet!. Denn je näher man sich kennen lernt, je mehr man ans
die einzelnen Beweggründe der Handlungsweise eines Menschen eingeht, desto
mehr gelangt man zu der Erkenntnis, daß ein bestimmter Charakter nicht anders
sein kann, als er ist, daß er das Ergebnis der Verhältnisse, Erlebnisse und
Anlagen ist. Man lernt schwächet« ertraget!, Vorzüge schätzen; stößt man auf
einen gar zu verschiednen Charakter, so lernt man sich ohne Haß meiden, so¬
bald man die innere Notwendigkeit eingesehen hat. Dieser Verkehr der bessern
Stände mit dem vierten Stande soll aber nicht in der Weise erfolgen, daß
Mitglieder des vierten Standes zu den Gesellschaften der bessern Stände heran¬
gezogen werden; das wäre wieder nur ein Almosen, eine Gnade sür den vierten
Stand. Seine Mitglieder würden in einer Ecke stehen, stumm bleiben und
froh sein, wenn sie wieder fortgehen könnten. Der Verkehr müßte vielmehr so
eingerichtet werden, daß er von beiden Seiten ausginge, daß gewisse gesellige
Zusammenkünfte eingerichtet werden, in denen anständige Angehörige aller
Stände Zutritt haben und in freien und gleichberechtigten Verkehr mit einander
träten. Es würde das große Schwierigkeiten bereiten; vor allem müßte das
Mißtrauen des vierten Standes durch die bessern Stände überwunden werden.
Es würde aufangs großer gegenseitiger Zwang, Befremdung und Ungeschick in
der gesellschaftliche» Behandlung auf beiden Seiten herrschen. Aber eines Ver¬
suches Wären solche Gesellschaften wert, denn sie würden manche Mißverständ¬
nisse zerstreuen, manche Gegensätze mildern. Gleichzeitig sollte aber die Bildung
des vierten Standes überhaupt gehoben werden, um den Verkehr mit den bessern
Ständen zu erleichtern.

Schließlich müßte die Sozialdemokratie auch durch Hebung des Mittel¬
standes, besonders des weniger vermögenden, bekämpft werden. Gerade der
Mittelstand ist es, der unter allen Auflagen und Preisveräuderungen am meisten
zu leiden hat und der mit feinem kleinen Kapital am meisten dnrch die Kon¬
kurrenz mit dem Großkapital gedrückt wird. Und doch ist er es, der die eigent¬
liche Kraft des Staates ausmacht, wie die Geschichte aller Länder beweist; denn
er hat die verbreitetste Bildung und ist sittlich und Physisch am wenigsten
verdorben, weil er keinen großen Reichtum hat, der ihm große Ausschweifungen
erlaubte. Außerdem ist er, wie gesagt, am meisten dabei interessirt, daß Staat
und Gesellschaft blühen, weil er unter alle« wirtschaftlichen Krise» und Auf¬
läget! am meisten leidet. Wird er noch weiter in seinen Lebensbedingungen herab¬
gedrückt, so kann es gar nicht ausbleiben und ist wohl schon jetzt in gewissem Maße
der Fall, daß die Unzufriedenheit in ihm eine solche Größe erreicht, daß ein großer


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[0071] Die Bekämpfung der Sozialdemokratie vom psychologischen Standpunkt dadurch außerdem gesellschaftliche Selbstbeherrschung und Haltung lernen; Selbst¬ beherrschung ist aber das erste Erfordernis zu jedem Fortschritt. Durch den gegenseitigen Meinungsaustausch im Verkehr würden auch nicht nur die Be¬ dürfnisse des vierte» Standes viel bekannter werden, es würden auch die Gegen¬ sätze vielmehr abgeschliffen, es würde gegenseitige Achtung und selbst Freund¬ schaft erzeugt werdet!. Denn je näher man sich kennen lernt, je mehr man ans die einzelnen Beweggründe der Handlungsweise eines Menschen eingeht, desto mehr gelangt man zu der Erkenntnis, daß ein bestimmter Charakter nicht anders sein kann, als er ist, daß er das Ergebnis der Verhältnisse, Erlebnisse und Anlagen ist. Man lernt schwächet« ertraget!, Vorzüge schätzen; stößt man auf einen gar zu verschiednen Charakter, so lernt man sich ohne Haß meiden, so¬ bald man die innere Notwendigkeit eingesehen hat. Dieser Verkehr der bessern Stände mit dem vierten Stande soll aber nicht in der Weise erfolgen, daß Mitglieder des vierten Standes zu den Gesellschaften der bessern Stände heran¬ gezogen werden; das wäre wieder nur ein Almosen, eine Gnade sür den vierten Stand. Seine Mitglieder würden in einer Ecke stehen, stumm bleiben und froh sein, wenn sie wieder fortgehen könnten. Der Verkehr müßte vielmehr so eingerichtet werden, daß er von beiden Seiten ausginge, daß gewisse gesellige Zusammenkünfte eingerichtet werden, in denen anständige Angehörige aller Stände Zutritt haben und in freien und gleichberechtigten Verkehr mit einander träten. Es würde das große Schwierigkeiten bereiten; vor allem müßte das Mißtrauen des vierten Standes durch die bessern Stände überwunden werden. Es würde aufangs großer gegenseitiger Zwang, Befremdung und Ungeschick in der gesellschaftliche» Behandlung auf beiden Seiten herrschen. Aber eines Ver¬ suches Wären solche Gesellschaften wert, denn sie würden manche Mißverständ¬ nisse zerstreuen, manche Gegensätze mildern. Gleichzeitig sollte aber die Bildung des vierten Standes überhaupt gehoben werden, um den Verkehr mit den bessern Ständen zu erleichtern. Schließlich müßte die Sozialdemokratie auch durch Hebung des Mittel¬ standes, besonders des weniger vermögenden, bekämpft werden. Gerade der Mittelstand ist es, der unter allen Auflagen und Preisveräuderungen am meisten zu leiden hat und der mit feinem kleinen Kapital am meisten dnrch die Kon¬ kurrenz mit dem Großkapital gedrückt wird. Und doch ist er es, der die eigent¬ liche Kraft des Staates ausmacht, wie die Geschichte aller Länder beweist; denn er hat die verbreitetste Bildung und ist sittlich und Physisch am wenigsten verdorben, weil er keinen großen Reichtum hat, der ihm große Ausschweifungen erlaubte. Außerdem ist er, wie gesagt, am meisten dabei interessirt, daß Staat und Gesellschaft blühen, weil er unter alle« wirtschaftlichen Krise» und Auf¬ läget! am meisten leidet. Wird er noch weiter in seinen Lebensbedingungen herab¬ gedrückt, so kann es gar nicht ausbleiben und ist wohl schon jetzt in gewissem Maße der Fall, daß die Unzufriedenheit in ihm eine solche Größe erreicht, daß ein großer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/71>, abgerufen am 23.07.2024.