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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Bekämpfung der Sozialdomokratie vom psychologischen Standpunkt

hauptsächlich in ihrer strengen Beweisführung. Es genügt jedenfalls, diese an
der niedern Mathematik (mit Ausschluß der Trigonometrie und analytischen
Geometrie) gründlich kennen zu lernen. Den Mittelpunkt des Unterrichts müßte
aber die Geschichte bilden, und an diese sich auf der einen Seite die Litteratur
der Muttersprache, auf der andern der Unterricht in der Muttersprache und
einer fremden Sprache anschließen. Denn dnrch diese Gegenstände wird,
wie gesagt, die Kenntnis der Vergangenheit, auf der die Gegenwart fußt, ver"
mietete und die Erkenntnis des eignen Selbst und der Mitmenschen vorbereitet
und die nötige Anleitung dazu gegeben.

Es genügt jedoch nicht, daß der Staat eine allgemeine Bildung durch die
Schule erzeugt, er muß anch weiterhin den Sinn für das Ideale erhalten und
fördern; das Materielle waltet nicht nur ohnehin im Leben vor, es ist in der
letzten Zeit auch durch die Führerrolle, die die Naturwissenschaften in unsrer
Kultur übernommen haben, in der Theorie das Herrschende geworden. Der
Staat kann dagegen nicht durch eine gewaltsame Eintrichternng idealen (und
religiösen) Sinnes ankämpfen; eine solche wird immer nur Ekel und Heuchelei
erzeugen. Er kaun nur ideale Genüsse und religiöse Erbauung unentgeltlich oder
gegen geringes Entgelt und in möglichst reiner Form anbieten. Er wird möglichst
viel Kunstsammlungen zu errichten und allgemein zugänglich zu machen haben; er
wird für gute öffentliche Musik zu sorgen haben; er wird die Theater möglichst
zu unterstützen, für eine große Anzahl billiger Plätze zu sorgen haben, er wird
aber auch darauf sehen müssen, daß wirklich gehaltvolle und nicht bloß sür den
Augenblick berechnete Stücke gegeben werden.

Was die Förderung der Religion anlangt, so muß anch hier jeder Zwang,
der nur Widerspruch oder Heuchelei erregt, vermieden werden. Der Staat kann
die Religion nnr fördern, indem er darüber wacht, daß ihre Priester die nötige
Bildung erhalten, daß sie ihr Amt rein verwalten, daß sie die religiösen Lehren
in ästhetisch annehmbarer Form und tüchtig durchgebildeten Inhalt darbieten,
und daß sie das Sittliche mehr betonen als die Kirchenzucht und die Dogmatik.
Im übrigen muß er sich jeder Einmischung in den Glaubensinhalt der einzelnen
Bekenntnisse enthalten und ans jeden auch mittelbaren religiösen Zwang gegen
die Unterthanen verzichten. Der ideale und daher auch der religiöse Sinn
wird durch Zwang stets vernichtet, seine Ausbildung kaun nur angeboten und
annehmbar gemacht, niemals erzwungen werden.

Aber uicht uur der Staat foll beitragen zur Hebung des vierten Standes,
auch die sogenannte bessere Gesellschaft muß es thun. Die bessere Gesellschaft
sollte darnach trachten, den sozialen Unterschied zwischen sich und dem vierten
Stande durch gegenseitigen Verkehr zu vermindern, um die Unzufriedenheit, die
immer wegen eines solchen gesellschaftlichen Unterschiedes entsteht, möglichst zu
heben. Dadurch würde der Arbeiter auch gesellig gebildet werdeu, was thu
wieder vor den rohen Genüssen des Saufens mehr bewahren könnte. Er würde


Die Bekämpfung der Sozialdomokratie vom psychologischen Standpunkt

hauptsächlich in ihrer strengen Beweisführung. Es genügt jedenfalls, diese an
der niedern Mathematik (mit Ausschluß der Trigonometrie und analytischen
Geometrie) gründlich kennen zu lernen. Den Mittelpunkt des Unterrichts müßte
aber die Geschichte bilden, und an diese sich auf der einen Seite die Litteratur
der Muttersprache, auf der andern der Unterricht in der Muttersprache und
einer fremden Sprache anschließen. Denn dnrch diese Gegenstände wird,
wie gesagt, die Kenntnis der Vergangenheit, auf der die Gegenwart fußt, ver«
mietete und die Erkenntnis des eignen Selbst und der Mitmenschen vorbereitet
und die nötige Anleitung dazu gegeben.

Es genügt jedoch nicht, daß der Staat eine allgemeine Bildung durch die
Schule erzeugt, er muß anch weiterhin den Sinn für das Ideale erhalten und
fördern; das Materielle waltet nicht nur ohnehin im Leben vor, es ist in der
letzten Zeit auch durch die Führerrolle, die die Naturwissenschaften in unsrer
Kultur übernommen haben, in der Theorie das Herrschende geworden. Der
Staat kann dagegen nicht durch eine gewaltsame Eintrichternng idealen (und
religiösen) Sinnes ankämpfen; eine solche wird immer nur Ekel und Heuchelei
erzeugen. Er kaun nur ideale Genüsse und religiöse Erbauung unentgeltlich oder
gegen geringes Entgelt und in möglichst reiner Form anbieten. Er wird möglichst
viel Kunstsammlungen zu errichten und allgemein zugänglich zu machen haben; er
wird für gute öffentliche Musik zu sorgen haben; er wird die Theater möglichst
zu unterstützen, für eine große Anzahl billiger Plätze zu sorgen haben, er wird
aber auch darauf sehen müssen, daß wirklich gehaltvolle und nicht bloß sür den
Augenblick berechnete Stücke gegeben werden.

Was die Förderung der Religion anlangt, so muß anch hier jeder Zwang,
der nur Widerspruch oder Heuchelei erregt, vermieden werden. Der Staat kann
die Religion nnr fördern, indem er darüber wacht, daß ihre Priester die nötige
Bildung erhalten, daß sie ihr Amt rein verwalten, daß sie die religiösen Lehren
in ästhetisch annehmbarer Form und tüchtig durchgebildeten Inhalt darbieten,
und daß sie das Sittliche mehr betonen als die Kirchenzucht und die Dogmatik.
Im übrigen muß er sich jeder Einmischung in den Glaubensinhalt der einzelnen
Bekenntnisse enthalten und ans jeden auch mittelbaren religiösen Zwang gegen
die Unterthanen verzichten. Der ideale und daher auch der religiöse Sinn
wird durch Zwang stets vernichtet, seine Ausbildung kaun nur angeboten und
annehmbar gemacht, niemals erzwungen werden.

Aber uicht uur der Staat foll beitragen zur Hebung des vierten Standes,
auch die sogenannte bessere Gesellschaft muß es thun. Die bessere Gesellschaft
sollte darnach trachten, den sozialen Unterschied zwischen sich und dem vierten
Stande durch gegenseitigen Verkehr zu vermindern, um die Unzufriedenheit, die
immer wegen eines solchen gesellschaftlichen Unterschiedes entsteht, möglichst zu
heben. Dadurch würde der Arbeiter auch gesellig gebildet werdeu, was thu
wieder vor den rohen Genüssen des Saufens mehr bewahren könnte. Er würde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/70>, abgerufen am 23.07.2024.