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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Sidonie Lange betreibt ihr Handwerk nur, um ihrer im Pensionat fern von
ihr heranwachsenden Tochter zu einer ehrbaren, gesicherten Existenz zu verhelfen.
Sie ist im Begriff, einen Gutsknuf abzuschließen. Weil ihr aber noch etwas an
der Summe fehlt, so hat sie noch einmal den jüdischen Banquier angenommen.
Nachher will sie es lassen und sich zurückziehen.

Als sie nun erfahren muß, daß ihre Tochter wegen eines Liebeshandels ans
dem Pensionat mit Schimpf entlassen worden ist, und als diese Tochter ihr zuruft:
"Du bist so schlecht, wie ich," dn ist natürlich der "Konflikt" da. Die Heldin
greift zum Selbstmord. Der Jude nimmt sich, da die Alte fort ist, die Junge.

Noch einen Tugendbold in dieser schonen Gesellschaft führt- uns die Novelle
vor, einen Dr. Findels, der Sidonier ihre Papiere anlegt, der es als seinen
Lebensberuf betrachtet, Gefallnen in edler Weise zu dienen und der noch in seinein
sechzigsten Lebensjahre mit einer "solchenen" in wilder Ehe lebt. Die andern'
"Helden" vertreten die reine vertierte Gemeinheit.

Wir möchten fragen: Besteht der anständige Teil des deutschen Volkes, der
doch unsre Familienblätter hält, aus lauter Gimpeln, daß er sich so etwas bieten
läßt? Jeder Abonnent, der nicht lolii, daß solches Gift in die Seele seines Kindes
geträufelt wird, sollte solche" Blättern den Eintritt in die Familie verwehren.
Geschähe das, so würde den Verlegern schon die Lust vergehen, unsre Familien
über "schlechte Nasse" zu unterhalten.


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Das Aufsätzchen in usum, Oslxluni ist nicht umsonst
geschrieben worden. Die Liberalen haben es als Waffe im Kampf gegen das
Rolksschulgesetz benutzt, und der Herr Kultusminister hat erklärt, daß Änderungen
von Liedertexten, wie sie darin besprochen worden sind, der reine Blödsinn seien.
Aber dürfen die Liberalen mit reinem Gewissen den Stein werfen? Haben sie
ein Wort des Tadels dafür, daß in dem Rückertschen Gedicht vom Bäumlein,
das andre Blätter gewollt, an Stelle des Juden mit großem Sack und langem
Bart jetzt ein konfessionsloser Bettler dnrch den Wald geht und die goldnen Blätter
einsteckt, und in Chamissos Gedicht: "Die Sonne bringt es an den Tag" in der
Zeile: "Da kam mir just ein Jud in die Quer" aus dem Juden ein -- Manu
gemacht worden ist? Auch die Fabel vou dem Maulwurf gehört hierher, der dem
Igel erst ein kleines Plätzchen in seinem Bau einräumt, dann aber immer mehr
beschränkt wird, bis er dem Fremden sein Hans ganz überlassen muß. Diese
Fabel stand früher in den Berliner Lesebüchern. Da aber die Jungen sehr bald
eine Ähnlichkeit mit dem Deutschen und dem Juden herauswitterten, so hat die libe¬
rale Schulverwaltung der Reichshauptstadt das anstößige Lesestück gestrichen.




Litteratur
Johannes Brahms in seinen Werken. Eine Studie von Emil Krause. Mit Verzeich¬
nissen jttmtlicher Instrumental- und Vokalkvmpositionen des Meisters. Hamburg, Lucas Gräfe
und Sitten, 1392.

Eine Studie nennt der Verfasser diese Übersicht über alle Brahmsscheu
Kompositionen? Denn das ist der wesentliche Inhalt des Heftchens. Freudige


Sidonie Lange betreibt ihr Handwerk nur, um ihrer im Pensionat fern von
ihr heranwachsenden Tochter zu einer ehrbaren, gesicherten Existenz zu verhelfen.
Sie ist im Begriff, einen Gutsknuf abzuschließen. Weil ihr aber noch etwas an
der Summe fehlt, so hat sie noch einmal den jüdischen Banquier angenommen.
Nachher will sie es lassen und sich zurückziehen.

Als sie nun erfahren muß, daß ihre Tochter wegen eines Liebeshandels ans
dem Pensionat mit Schimpf entlassen worden ist, und als diese Tochter ihr zuruft:
„Du bist so schlecht, wie ich," dn ist natürlich der „Konflikt" da. Die Heldin
greift zum Selbstmord. Der Jude nimmt sich, da die Alte fort ist, die Junge.

Noch einen Tugendbold in dieser schonen Gesellschaft führt- uns die Novelle
vor, einen Dr. Findels, der Sidonier ihre Papiere anlegt, der es als seinen
Lebensberuf betrachtet, Gefallnen in edler Weise zu dienen und der noch in seinein
sechzigsten Lebensjahre mit einer „solchenen" in wilder Ehe lebt. Die andern'
„Helden" vertreten die reine vertierte Gemeinheit.

Wir möchten fragen: Besteht der anständige Teil des deutschen Volkes, der
doch unsre Familienblätter hält, aus lauter Gimpeln, daß er sich so etwas bieten
läßt? Jeder Abonnent, der nicht lolii, daß solches Gift in die Seele seines Kindes
geträufelt wird, sollte solche» Blättern den Eintritt in die Familie verwehren.
Geschähe das, so würde den Verlegern schon die Lust vergehen, unsre Familien
über „schlechte Nasse" zu unterhalten.


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Das Aufsätzchen in usum, Oslxluni ist nicht umsonst
geschrieben worden. Die Liberalen haben es als Waffe im Kampf gegen das
Rolksschulgesetz benutzt, und der Herr Kultusminister hat erklärt, daß Änderungen
von Liedertexten, wie sie darin besprochen worden sind, der reine Blödsinn seien.
Aber dürfen die Liberalen mit reinem Gewissen den Stein werfen? Haben sie
ein Wort des Tadels dafür, daß in dem Rückertschen Gedicht vom Bäumlein,
das andre Blätter gewollt, an Stelle des Juden mit großem Sack und langem
Bart jetzt ein konfessionsloser Bettler dnrch den Wald geht und die goldnen Blätter
einsteckt, und in Chamissos Gedicht: „Die Sonne bringt es an den Tag" in der
Zeile: „Da kam mir just ein Jud in die Quer" aus dem Juden ein — Manu
gemacht worden ist? Auch die Fabel vou dem Maulwurf gehört hierher, der dem
Igel erst ein kleines Plätzchen in seinem Bau einräumt, dann aber immer mehr
beschränkt wird, bis er dem Fremden sein Hans ganz überlassen muß. Diese
Fabel stand früher in den Berliner Lesebüchern. Da aber die Jungen sehr bald
eine Ähnlichkeit mit dem Deutschen und dem Juden herauswitterten, so hat die libe¬
rale Schulverwaltung der Reichshauptstadt das anstößige Lesestück gestrichen.




Litteratur
Johannes Brahms in seinen Werken. Eine Studie von Emil Krause. Mit Verzeich¬
nissen jttmtlicher Instrumental- und Vokalkvmpositionen des Meisters. Hamburg, Lucas Gräfe
und Sitten, 1392.

Eine Studie nennt der Verfasser diese Übersicht über alle Brahmsscheu
Kompositionen? Denn das ist der wesentliche Inhalt des Heftchens. Freudige


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[0662] Sidonie Lange betreibt ihr Handwerk nur, um ihrer im Pensionat fern von ihr heranwachsenden Tochter zu einer ehrbaren, gesicherten Existenz zu verhelfen. Sie ist im Begriff, einen Gutsknuf abzuschließen. Weil ihr aber noch etwas an der Summe fehlt, so hat sie noch einmal den jüdischen Banquier angenommen. Nachher will sie es lassen und sich zurückziehen. Als sie nun erfahren muß, daß ihre Tochter wegen eines Liebeshandels ans dem Pensionat mit Schimpf entlassen worden ist, und als diese Tochter ihr zuruft: „Du bist so schlecht, wie ich," dn ist natürlich der „Konflikt" da. Die Heldin greift zum Selbstmord. Der Jude nimmt sich, da die Alte fort ist, die Junge. Noch einen Tugendbold in dieser schonen Gesellschaft führt- uns die Novelle vor, einen Dr. Findels, der Sidonier ihre Papiere anlegt, der es als seinen Lebensberuf betrachtet, Gefallnen in edler Weise zu dienen und der noch in seinein sechzigsten Lebensjahre mit einer „solchenen" in wilder Ehe lebt. Die andern' „Helden" vertreten die reine vertierte Gemeinheit. Wir möchten fragen: Besteht der anständige Teil des deutschen Volkes, der doch unsre Familienblätter hält, aus lauter Gimpeln, daß er sich so etwas bieten läßt? Jeder Abonnent, der nicht lolii, daß solches Gift in die Seele seines Kindes geträufelt wird, sollte solche» Blättern den Eintritt in die Familie verwehren. Geschähe das, so würde den Verlegern schon die Lust vergehen, unsre Familien über „schlechte Nasse" zu unterhalten. ?6«eg.tur <ze oxtra. Das Aufsätzchen in usum, Oslxluni ist nicht umsonst geschrieben worden. Die Liberalen haben es als Waffe im Kampf gegen das Rolksschulgesetz benutzt, und der Herr Kultusminister hat erklärt, daß Änderungen von Liedertexten, wie sie darin besprochen worden sind, der reine Blödsinn seien. Aber dürfen die Liberalen mit reinem Gewissen den Stein werfen? Haben sie ein Wort des Tadels dafür, daß in dem Rückertschen Gedicht vom Bäumlein, das andre Blätter gewollt, an Stelle des Juden mit großem Sack und langem Bart jetzt ein konfessionsloser Bettler dnrch den Wald geht und die goldnen Blätter einsteckt, und in Chamissos Gedicht: „Die Sonne bringt es an den Tag" in der Zeile: „Da kam mir just ein Jud in die Quer" aus dem Juden ein — Manu gemacht worden ist? Auch die Fabel vou dem Maulwurf gehört hierher, der dem Igel erst ein kleines Plätzchen in seinem Bau einräumt, dann aber immer mehr beschränkt wird, bis er dem Fremden sein Hans ganz überlassen muß. Diese Fabel stand früher in den Berliner Lesebüchern. Da aber die Jungen sehr bald eine Ähnlichkeit mit dem Deutschen und dem Juden herauswitterten, so hat die libe¬ rale Schulverwaltung der Reichshauptstadt das anstößige Lesestück gestrichen. Litteratur Johannes Brahms in seinen Werken. Eine Studie von Emil Krause. Mit Verzeich¬ nissen jttmtlicher Instrumental- und Vokalkvmpositionen des Meisters. Hamburg, Lucas Gräfe und Sitten, 1392. Eine Studie nennt der Verfasser diese Übersicht über alle Brahmsscheu Kompositionen? Denn das ist der wesentliche Inhalt des Heftchens. Freudige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/662>, abgerufen am 23.07.2024.