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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Bekämpfung der Sozialdemokrcitie vom psychologischen Standpunkt

Bildung aufgenommen, zum Teil in der Nationalökonomie untergebracht werden,
die an allen höhern Schulen gelehrt werden sollte. In der erstern kann die Geschichte
der Staatsverfassungen und politischen Bewegungen mehr betont werden, während
in die Nationalökonomie auch eine Darstellung des ganzen Staatslebens ausge¬
nommen werden kann.

Damit wäre im allgemeinen der Begriff der Bildung festgestellt, denn der
Begriff der Berufsbildung braucht nicht näher erörtert zu werden. Der wichtigste
Begriff ist jedenfalls der der allgemeinen Bildung, denn sie umfaßt alles Wissen,
das vorzugsweise auf den Charakter einwirkt. Deswegen sind auch die Natur¬
wissenschaften zur allgemeinen Bildung nnr so weit erforderlich, daß ein ge¬
wisser Sinn und ein gewisses Verständnis sür das Leben der Natur erweckt
wird; sie bergen aber eine große Gefahr in sich, nämlich die: alles nur in
seiner Äußerlichkeit aufzufassen, nichts zu schätzen, das nicht äußerlich gemessen
und in Zahlen bestimmt werden kann, und die naturwissenschaftliche Methode
ans alles anwenden zu wollen. Man kann sagen, die Naturwissenschaften
sind der Krebsschaden unsrer heutigen Bildung; sie haben eine Oberflächlichkeit
des Denkens auf allen nicht naturwissenschaftlichen Gebieten und eine Äußer¬
lichkeit der Auffassung erzeugt, die sich schon gerächt hat und sich noch schwer
rächen wird. Die Sozialdemokratie ist theoretisch ein Kind des naturwissen¬
schaftlichen Materialismus. Sie verkennt vollständig, daß es eine sittliche Rang¬
ordnung der Gitter giebt, die mit der rein quantitativen und materiellen uicht
übereinstimmt. Aber alles Sittliche tritt heutzutage in den Hintergrund, weil
die Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis, die einzigen Grundlagen des Ver¬
ständnisses andrer, über der einseitigen Betonung der Naturwissenschaften fast ganz
verloren gegangen sind. Dadurch ist im Publikum ein Unverständnis aller philo¬
sophischen Bestrebungen erzeugt wordeu und eine Verachtung aller Philosophie, die
ihrerseits eine Berflachung des Denkens hervorgerufen haben, wie sie kaum jemals
vorhanden war. In den besondern Wissensgebieten wird oft Bedeutendes geleistet,
aber allgemeine Fragen, die keinem einzelnen Gebiete angehören, werden heutzutage
meist mit einer Unklarheit und Oberflächlichkeit behandelt, die erschreckend ist. Und
doch sind gerade diese allgemeinen Fragen solche, welche die Massen am meisten be¬
wegen und sich der naturwissenschaftlichen Lösung meist gänzlich entziehen. Man
hat vorgezogen, diese unbestimmt zu lassen, sobald sie sich nach naturwissen¬
schaftlicher Methode nicht genau beantworten lassen. So treten die Geistes-
wissenschaften und vor allen die Philosophie immer mehr in den Hintergrund,
und die Angriffe auf das einzige Bollwerk logischer und psychologischer Bildung,
das noch vorhanden ist und das mit ihr zugleich historische Bildung verbindet,
auf den Unterricht in den klassischen Sprachen, mehren sich und werden mit
der Zeit auch seinen Fall herbeiziehen. Doch so muß es kommen, nicht eher
wird man sich wieder zur klassischen und philosophischen Bildung zurückwenden,
bis die naturwissenschaftliche Methode den innern Zusammenhang alles Wissens


Die Bekämpfung der Sozialdemokrcitie vom psychologischen Standpunkt

Bildung aufgenommen, zum Teil in der Nationalökonomie untergebracht werden,
die an allen höhern Schulen gelehrt werden sollte. In der erstern kann die Geschichte
der Staatsverfassungen und politischen Bewegungen mehr betont werden, während
in die Nationalökonomie auch eine Darstellung des ganzen Staatslebens ausge¬
nommen werden kann.

Damit wäre im allgemeinen der Begriff der Bildung festgestellt, denn der
Begriff der Berufsbildung braucht nicht näher erörtert zu werden. Der wichtigste
Begriff ist jedenfalls der der allgemeinen Bildung, denn sie umfaßt alles Wissen,
das vorzugsweise auf den Charakter einwirkt. Deswegen sind auch die Natur¬
wissenschaften zur allgemeinen Bildung nnr so weit erforderlich, daß ein ge¬
wisser Sinn und ein gewisses Verständnis sür das Leben der Natur erweckt
wird; sie bergen aber eine große Gefahr in sich, nämlich die: alles nur in
seiner Äußerlichkeit aufzufassen, nichts zu schätzen, das nicht äußerlich gemessen
und in Zahlen bestimmt werden kann, und die naturwissenschaftliche Methode
ans alles anwenden zu wollen. Man kann sagen, die Naturwissenschaften
sind der Krebsschaden unsrer heutigen Bildung; sie haben eine Oberflächlichkeit
des Denkens auf allen nicht naturwissenschaftlichen Gebieten und eine Äußer¬
lichkeit der Auffassung erzeugt, die sich schon gerächt hat und sich noch schwer
rächen wird. Die Sozialdemokratie ist theoretisch ein Kind des naturwissen¬
schaftlichen Materialismus. Sie verkennt vollständig, daß es eine sittliche Rang¬
ordnung der Gitter giebt, die mit der rein quantitativen und materiellen uicht
übereinstimmt. Aber alles Sittliche tritt heutzutage in den Hintergrund, weil
die Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis, die einzigen Grundlagen des Ver¬
ständnisses andrer, über der einseitigen Betonung der Naturwissenschaften fast ganz
verloren gegangen sind. Dadurch ist im Publikum ein Unverständnis aller philo¬
sophischen Bestrebungen erzeugt wordeu und eine Verachtung aller Philosophie, die
ihrerseits eine Berflachung des Denkens hervorgerufen haben, wie sie kaum jemals
vorhanden war. In den besondern Wissensgebieten wird oft Bedeutendes geleistet,
aber allgemeine Fragen, die keinem einzelnen Gebiete angehören, werden heutzutage
meist mit einer Unklarheit und Oberflächlichkeit behandelt, die erschreckend ist. Und
doch sind gerade diese allgemeinen Fragen solche, welche die Massen am meisten be¬
wegen und sich der naturwissenschaftlichen Lösung meist gänzlich entziehen. Man
hat vorgezogen, diese unbestimmt zu lassen, sobald sie sich nach naturwissen¬
schaftlicher Methode nicht genau beantworten lassen. So treten die Geistes-
wissenschaften und vor allen die Philosophie immer mehr in den Hintergrund,
und die Angriffe auf das einzige Bollwerk logischer und psychologischer Bildung,
das noch vorhanden ist und das mit ihr zugleich historische Bildung verbindet,
auf den Unterricht in den klassischen Sprachen, mehren sich und werden mit
der Zeit auch seinen Fall herbeiziehen. Doch so muß es kommen, nicht eher
wird man sich wieder zur klassischen und philosophischen Bildung zurückwenden,
bis die naturwissenschaftliche Methode den innern Zusammenhang alles Wissens


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[0066] Die Bekämpfung der Sozialdemokrcitie vom psychologischen Standpunkt Bildung aufgenommen, zum Teil in der Nationalökonomie untergebracht werden, die an allen höhern Schulen gelehrt werden sollte. In der erstern kann die Geschichte der Staatsverfassungen und politischen Bewegungen mehr betont werden, während in die Nationalökonomie auch eine Darstellung des ganzen Staatslebens ausge¬ nommen werden kann. Damit wäre im allgemeinen der Begriff der Bildung festgestellt, denn der Begriff der Berufsbildung braucht nicht näher erörtert zu werden. Der wichtigste Begriff ist jedenfalls der der allgemeinen Bildung, denn sie umfaßt alles Wissen, das vorzugsweise auf den Charakter einwirkt. Deswegen sind auch die Natur¬ wissenschaften zur allgemeinen Bildung nnr so weit erforderlich, daß ein ge¬ wisser Sinn und ein gewisses Verständnis sür das Leben der Natur erweckt wird; sie bergen aber eine große Gefahr in sich, nämlich die: alles nur in seiner Äußerlichkeit aufzufassen, nichts zu schätzen, das nicht äußerlich gemessen und in Zahlen bestimmt werden kann, und die naturwissenschaftliche Methode ans alles anwenden zu wollen. Man kann sagen, die Naturwissenschaften sind der Krebsschaden unsrer heutigen Bildung; sie haben eine Oberflächlichkeit des Denkens auf allen nicht naturwissenschaftlichen Gebieten und eine Äußer¬ lichkeit der Auffassung erzeugt, die sich schon gerächt hat und sich noch schwer rächen wird. Die Sozialdemokratie ist theoretisch ein Kind des naturwissen¬ schaftlichen Materialismus. Sie verkennt vollständig, daß es eine sittliche Rang¬ ordnung der Gitter giebt, die mit der rein quantitativen und materiellen uicht übereinstimmt. Aber alles Sittliche tritt heutzutage in den Hintergrund, weil die Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis, die einzigen Grundlagen des Ver¬ ständnisses andrer, über der einseitigen Betonung der Naturwissenschaften fast ganz verloren gegangen sind. Dadurch ist im Publikum ein Unverständnis aller philo¬ sophischen Bestrebungen erzeugt wordeu und eine Verachtung aller Philosophie, die ihrerseits eine Berflachung des Denkens hervorgerufen haben, wie sie kaum jemals vorhanden war. In den besondern Wissensgebieten wird oft Bedeutendes geleistet, aber allgemeine Fragen, die keinem einzelnen Gebiete angehören, werden heutzutage meist mit einer Unklarheit und Oberflächlichkeit behandelt, die erschreckend ist. Und doch sind gerade diese allgemeinen Fragen solche, welche die Massen am meisten be¬ wegen und sich der naturwissenschaftlichen Lösung meist gänzlich entziehen. Man hat vorgezogen, diese unbestimmt zu lassen, sobald sie sich nach naturwissen¬ schaftlicher Methode nicht genau beantworten lassen. So treten die Geistes- wissenschaften und vor allen die Philosophie immer mehr in den Hintergrund, und die Angriffe auf das einzige Bollwerk logischer und psychologischer Bildung, das noch vorhanden ist und das mit ihr zugleich historische Bildung verbindet, auf den Unterricht in den klassischen Sprachen, mehren sich und werden mit der Zeit auch seinen Fall herbeiziehen. Doch so muß es kommen, nicht eher wird man sich wieder zur klassischen und philosophischen Bildung zurückwenden, bis die naturwissenschaftliche Methode den innern Zusammenhang alles Wissens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/66>, abgerufen am 23.07.2024.