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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straszburger lyrische Gedichte

dieser Brief gab nur von dem ersten Anknüpfen des Verhältnisses Kunde, wie
denn auch die auf Weihnachten sich beziehenden Gedichte noch an beide
Schwestern gerichtet waren.

Diesem den Liebesbund schließenden Besuche folgten, wie wir jetzt mit
vollster Gewißheit behaupten können, die vier in derselben Neunforn wie
"Bälde seh ich Riekchen wieder" gedichteten, anch in Friederikens Handschrift noch
1835 erhaltenen Strophen, mit denen er ein nach der Mode der Zeit selbst¬
gemaltes Band begleitete. "Wahrheit und Dichtung" verlegt sie nach dem
langen, bis nach Mitte Juni reichenden Pfingstbesuche, wo schon das schöne
Verhältnis getrübt war. Ihre Zeitbestimmung dürfte sich aus der Äußerung
ergeben, daß ihm "gute Frühlingsgötter" kleine Blumen nud Blätter auf ein
luftig Band gestreut haben. Im Winter würde er nicht von Frühlingsgöttern
gesprochen oder wenigstens dabei den Gegensatz der Jahreszeit hervorgehoben,
selbst i> - Anfang des Sommers würde er nicht an solche gedacht haben. Und die
schöne Wendung, der Frühlingswind, der Zephhr, möge das Band auf seine
Flügel nehmen, es selbst um das Kleid der Geliebten schlingen, deutet auf das
frisch erstcmdnc Jahr; ja der Gedanke, Friederiken ein gemaltes Band zum
Schmuck ihres Kleides zu schicken, konnte erst kommen zu einer Zeit, wo
sich die Geliebte in dem Frühlingsputzc zeigen sollte, in dem er sie zu begrüßen
hoffte. Das nus frohem Herzen warm und innig gefloßne Lied bezeichnet den
Höhepunkt der Sesenheimer Liebe und Dichtung. Friederike müszte darin, wenn
es auch kein Wort von einer Verbindung fürs Leben enthielt, die Versicherung
oder wenigstens die Andeutung der bevorstehenden Versicherung ihrer Ver¬
einigung sehen. Deshalb war auch Friederikens Schwester über das noch er-
haltne Band so ärgerlich, daß sie dieses, wie sie Kruse mitteilte, kurz vor seiner
Ankunft verbrannte. Gvedeke ließ sich hierdurch nicht hindern, das Gedicht auf
eine Frankfurter Dame zu beziehen. Einige Zeit später wird der Liebende
selbst dem Bande gefolgt sein, etwa Ende April (der 28. war ein Sonntag),
aber Friederike mag verstimmt gewesen sein, daß es zu keiner weitern Erklärung
kam, welche die in den schönen Versen angedeutete Verbindung fürs Leben
bestätigte. In diesen kurzen Besuch, der freilich bis zum 1. Mai gedauert
haben könnte, fällt das launige Gedicht, das ihm der Unmut eingab, als Frie¬
derike ihr Versprechen verschlief, am frühen Morgen mit ihm, ohne Zweifel
in Begleitung der Schwester, spazieren zu gehen, um den Gesang der Nachti¬
gallen zu hören. Das Gedicht, worin er die Geliebte zuerst mit ihrem Namen,
dann als sein "geliebte Geschwister" (Schwester) und als "Schöne" anredet,
ist in ländischen, aus zwei gleichen Systemen vestehendcn Strophen verfaßt;
die wechselnd reimenden Verse sind kürzer, drittehalb- und zweifüßig. Man
fühlt ihm deu Mißmut an, worin er es am frühen Morgen auf dem Spazier-
gang ersonnen und dann rasch hingeworfen hatte, um es Friederiken zu gebe";
auch die nachlässige Schrift zeugte noch davon. Der Dichter, der seinen


Goethes Straszburger lyrische Gedichte

dieser Brief gab nur von dem ersten Anknüpfen des Verhältnisses Kunde, wie
denn auch die auf Weihnachten sich beziehenden Gedichte noch an beide
Schwestern gerichtet waren.

Diesem den Liebesbund schließenden Besuche folgten, wie wir jetzt mit
vollster Gewißheit behaupten können, die vier in derselben Neunforn wie
„Bälde seh ich Riekchen wieder" gedichteten, anch in Friederikens Handschrift noch
1835 erhaltenen Strophen, mit denen er ein nach der Mode der Zeit selbst¬
gemaltes Band begleitete. „Wahrheit und Dichtung" verlegt sie nach dem
langen, bis nach Mitte Juni reichenden Pfingstbesuche, wo schon das schöne
Verhältnis getrübt war. Ihre Zeitbestimmung dürfte sich aus der Äußerung
ergeben, daß ihm „gute Frühlingsgötter" kleine Blumen nud Blätter auf ein
luftig Band gestreut haben. Im Winter würde er nicht von Frühlingsgöttern
gesprochen oder wenigstens dabei den Gegensatz der Jahreszeit hervorgehoben,
selbst i> - Anfang des Sommers würde er nicht an solche gedacht haben. Und die
schöne Wendung, der Frühlingswind, der Zephhr, möge das Band auf seine
Flügel nehmen, es selbst um das Kleid der Geliebten schlingen, deutet auf das
frisch erstcmdnc Jahr; ja der Gedanke, Friederiken ein gemaltes Band zum
Schmuck ihres Kleides zu schicken, konnte erst kommen zu einer Zeit, wo
sich die Geliebte in dem Frühlingsputzc zeigen sollte, in dem er sie zu begrüßen
hoffte. Das nus frohem Herzen warm und innig gefloßne Lied bezeichnet den
Höhepunkt der Sesenheimer Liebe und Dichtung. Friederike müszte darin, wenn
es auch kein Wort von einer Verbindung fürs Leben enthielt, die Versicherung
oder wenigstens die Andeutung der bevorstehenden Versicherung ihrer Ver¬
einigung sehen. Deshalb war auch Friederikens Schwester über das noch er-
haltne Band so ärgerlich, daß sie dieses, wie sie Kruse mitteilte, kurz vor seiner
Ankunft verbrannte. Gvedeke ließ sich hierdurch nicht hindern, das Gedicht auf
eine Frankfurter Dame zu beziehen. Einige Zeit später wird der Liebende
selbst dem Bande gefolgt sein, etwa Ende April (der 28. war ein Sonntag),
aber Friederike mag verstimmt gewesen sein, daß es zu keiner weitern Erklärung
kam, welche die in den schönen Versen angedeutete Verbindung fürs Leben
bestätigte. In diesen kurzen Besuch, der freilich bis zum 1. Mai gedauert
haben könnte, fällt das launige Gedicht, das ihm der Unmut eingab, als Frie¬
derike ihr Versprechen verschlief, am frühen Morgen mit ihm, ohne Zweifel
in Begleitung der Schwester, spazieren zu gehen, um den Gesang der Nachti¬
gallen zu hören. Das Gedicht, worin er die Geliebte zuerst mit ihrem Namen,
dann als sein „geliebte Geschwister" (Schwester) und als „Schöne" anredet,
ist in ländischen, aus zwei gleichen Systemen vestehendcn Strophen verfaßt;
die wechselnd reimenden Verse sind kürzer, drittehalb- und zweifüßig. Man
fühlt ihm deu Mißmut an, worin er es am frühen Morgen auf dem Spazier-
gang ersonnen und dann rasch hingeworfen hatte, um es Friederiken zu gebe»;
auch die nachlässige Schrift zeugte noch davon. Der Dichter, der seinen


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[0640] Goethes Straszburger lyrische Gedichte dieser Brief gab nur von dem ersten Anknüpfen des Verhältnisses Kunde, wie denn auch die auf Weihnachten sich beziehenden Gedichte noch an beide Schwestern gerichtet waren. Diesem den Liebesbund schließenden Besuche folgten, wie wir jetzt mit vollster Gewißheit behaupten können, die vier in derselben Neunforn wie „Bälde seh ich Riekchen wieder" gedichteten, anch in Friederikens Handschrift noch 1835 erhaltenen Strophen, mit denen er ein nach der Mode der Zeit selbst¬ gemaltes Band begleitete. „Wahrheit und Dichtung" verlegt sie nach dem langen, bis nach Mitte Juni reichenden Pfingstbesuche, wo schon das schöne Verhältnis getrübt war. Ihre Zeitbestimmung dürfte sich aus der Äußerung ergeben, daß ihm „gute Frühlingsgötter" kleine Blumen nud Blätter auf ein luftig Band gestreut haben. Im Winter würde er nicht von Frühlingsgöttern gesprochen oder wenigstens dabei den Gegensatz der Jahreszeit hervorgehoben, selbst i> - Anfang des Sommers würde er nicht an solche gedacht haben. Und die schöne Wendung, der Frühlingswind, der Zephhr, möge das Band auf seine Flügel nehmen, es selbst um das Kleid der Geliebten schlingen, deutet auf das frisch erstcmdnc Jahr; ja der Gedanke, Friederiken ein gemaltes Band zum Schmuck ihres Kleides zu schicken, konnte erst kommen zu einer Zeit, wo sich die Geliebte in dem Frühlingsputzc zeigen sollte, in dem er sie zu begrüßen hoffte. Das nus frohem Herzen warm und innig gefloßne Lied bezeichnet den Höhepunkt der Sesenheimer Liebe und Dichtung. Friederike müszte darin, wenn es auch kein Wort von einer Verbindung fürs Leben enthielt, die Versicherung oder wenigstens die Andeutung der bevorstehenden Versicherung ihrer Ver¬ einigung sehen. Deshalb war auch Friederikens Schwester über das noch er- haltne Band so ärgerlich, daß sie dieses, wie sie Kruse mitteilte, kurz vor seiner Ankunft verbrannte. Gvedeke ließ sich hierdurch nicht hindern, das Gedicht auf eine Frankfurter Dame zu beziehen. Einige Zeit später wird der Liebende selbst dem Bande gefolgt sein, etwa Ende April (der 28. war ein Sonntag), aber Friederike mag verstimmt gewesen sein, daß es zu keiner weitern Erklärung kam, welche die in den schönen Versen angedeutete Verbindung fürs Leben bestätigte. In diesen kurzen Besuch, der freilich bis zum 1. Mai gedauert haben könnte, fällt das launige Gedicht, das ihm der Unmut eingab, als Frie¬ derike ihr Versprechen verschlief, am frühen Morgen mit ihm, ohne Zweifel in Begleitung der Schwester, spazieren zu gehen, um den Gesang der Nachti¬ gallen zu hören. Das Gedicht, worin er die Geliebte zuerst mit ihrem Namen, dann als sein „geliebte Geschwister" (Schwester) und als „Schöne" anredet, ist in ländischen, aus zwei gleichen Systemen vestehendcn Strophen verfaßt; die wechselnd reimenden Verse sind kürzer, drittehalb- und zweifüßig. Man fühlt ihm deu Mißmut an, worin er es am frühen Morgen auf dem Spazier- gang ersonnen und dann rasch hingeworfen hatte, um es Friederiken zu gebe»; auch die nachlässige Schrift zeugte noch davon. Der Dichter, der seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/640>, abgerufen am 23.07.2024.