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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Seltsame Fortschritte

Härte in der Beseitigung von Mißbräuchen und unnötigen Einrichtungen mußten
auch solche Gläubige erbittern, die gegen Mißstünde nicht blind waren, und
haben bis aus den heutigen Tag den Dunkelmännern Waffen gegen jede ver¬
nünftige Reform geliefert. Auf der andern Seite aber ist Joseph II. der eigent¬
liche Begründer jenes Schcinkatholizismus geworden, der sich etwas darauf zu
gute thut, alleu Glaubensangelegenheiten fernzubleiben, und es für uicht der
Mühe wert erklärt, sich persönlich unabhängig zu macheu, in Wahrheit uicht
den Mut dazu aufbringt. Diese Josephiner und Freidenker tragen die Haupt¬
schuld, daß die Bewegung gegen das Vatikanmn erfolglos geblieben ist.

Auch daß er bemüht war, sich zu unterrichten, ist wahr. Er reiste viel in
eignen und fremden Ländern, wollte mit eignen Augen sehen. Aber bei seinem
Charakter und seinen vorgefaßten Meinungen konnten solche Studien nicht über
den Dilettantismus hinausführen. Bezeichnend dasür ist sein oft erzählter
Versuch im Pflügen auf einem Acker in Mähren. Und leider glaubte er alles
gründlich zu verstehen, was er oberflächlich kennen gelernt hatte.

Um noch einmal zu der belgischen Sache zurückzukehren: die gemäßigte
Partei der Stände hatte der Aufforderung des Kaisers gemäß eine Deputation
nach Wien geschickt. Ju Briefen an Murrah äußerte er sich außerordentlich an¬
erkennend über die ihm überreichte Denkschrift, befahl jedoch gleichzeitig das
gerade Gegenteil von deren Inhalt. Die Stände baten um Aufrechterhaltung
der Verfassung, der Kaiser verfügte die Zurücknahme aller Zugeständnisse und
ermahnte Murray, sich um das Gerede der Stände nicht zu kümmern. Großen
Ärger bereiteten ihm die vielen in Brüssel erschienenen Flugschriften; der Rat
von Brabant solle die Verfasser bestrafen und im Falle der Weigerung abgesetzt
werden. Die Bevölkerung werde mit der Zeit schon einsehen, daß seine An¬
ordnungen die besten seien. Lorenz legt zum Schlüsse den Anhängern des Jose-
phinismns die Frage vor, "warum der Kaiser nicht lieber seine Nesormthätigkeit
auf die Verfassung in Belgien gelenkt hat, und warum er nicht lieber im
Geiste eines Montesquieu vorgegangen ist, als sich durch endlose und nutzlose
Ordonnanzen zu erschöpfen?" Aber es war freilich leichter zu dekretiren, als
wahrhaft zu verbessern.

Ob er bei längerer Lebensdauer durch das Mißlingen aller seiner Pläne
von dem Glauben an seine Unfehlbarkeit würde bekehrt worden fein -- wer
kann das sagen! Aber daß uach hundert Jahren -- und welchen! -- das nach
diesem Kaiser benannte System noch immer Verehrer und Verfechter siudeu kann,
das wäre schwer begreiflich, wenn man nicht wüßte, daß so manche Liberalen
zwar gern die Worte Uhlauds, daß kein irdischer Mann allein in seinen Händen
den Reichtum alles Rechtes hält, zitiren, aber sobald die Freiheit, die sie
meinen, in Frage kommt, auch den Zwang billigen. Auch das nennt man
Fortschritt.




Seltsame Fortschritte

Härte in der Beseitigung von Mißbräuchen und unnötigen Einrichtungen mußten
auch solche Gläubige erbittern, die gegen Mißstünde nicht blind waren, und
haben bis aus den heutigen Tag den Dunkelmännern Waffen gegen jede ver¬
nünftige Reform geliefert. Auf der andern Seite aber ist Joseph II. der eigent¬
liche Begründer jenes Schcinkatholizismus geworden, der sich etwas darauf zu
gute thut, alleu Glaubensangelegenheiten fernzubleiben, und es für uicht der
Mühe wert erklärt, sich persönlich unabhängig zu macheu, in Wahrheit uicht
den Mut dazu aufbringt. Diese Josephiner und Freidenker tragen die Haupt¬
schuld, daß die Bewegung gegen das Vatikanmn erfolglos geblieben ist.

Auch daß er bemüht war, sich zu unterrichten, ist wahr. Er reiste viel in
eignen und fremden Ländern, wollte mit eignen Augen sehen. Aber bei seinem
Charakter und seinen vorgefaßten Meinungen konnten solche Studien nicht über
den Dilettantismus hinausführen. Bezeichnend dasür ist sein oft erzählter
Versuch im Pflügen auf einem Acker in Mähren. Und leider glaubte er alles
gründlich zu verstehen, was er oberflächlich kennen gelernt hatte.

Um noch einmal zu der belgischen Sache zurückzukehren: die gemäßigte
Partei der Stände hatte der Aufforderung des Kaisers gemäß eine Deputation
nach Wien geschickt. Ju Briefen an Murrah äußerte er sich außerordentlich an¬
erkennend über die ihm überreichte Denkschrift, befahl jedoch gleichzeitig das
gerade Gegenteil von deren Inhalt. Die Stände baten um Aufrechterhaltung
der Verfassung, der Kaiser verfügte die Zurücknahme aller Zugeständnisse und
ermahnte Murray, sich um das Gerede der Stände nicht zu kümmern. Großen
Ärger bereiteten ihm die vielen in Brüssel erschienenen Flugschriften; der Rat
von Brabant solle die Verfasser bestrafen und im Falle der Weigerung abgesetzt
werden. Die Bevölkerung werde mit der Zeit schon einsehen, daß seine An¬
ordnungen die besten seien. Lorenz legt zum Schlüsse den Anhängern des Jose-
phinismns die Frage vor, „warum der Kaiser nicht lieber seine Nesormthätigkeit
auf die Verfassung in Belgien gelenkt hat, und warum er nicht lieber im
Geiste eines Montesquieu vorgegangen ist, als sich durch endlose und nutzlose
Ordonnanzen zu erschöpfen?" Aber es war freilich leichter zu dekretiren, als
wahrhaft zu verbessern.

Ob er bei längerer Lebensdauer durch das Mißlingen aller seiner Pläne
von dem Glauben an seine Unfehlbarkeit würde bekehrt worden fein — wer
kann das sagen! Aber daß uach hundert Jahren — und welchen! — das nach
diesem Kaiser benannte System noch immer Verehrer und Verfechter siudeu kann,
das wäre schwer begreiflich, wenn man nicht wüßte, daß so manche Liberalen
zwar gern die Worte Uhlauds, daß kein irdischer Mann allein in seinen Händen
den Reichtum alles Rechtes hält, zitiren, aber sobald die Freiheit, die sie
meinen, in Frage kommt, auch den Zwang billigen. Auch das nennt man
Fortschritt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/64>, abgerufen am 23.07.2024.