Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Straßburger lyrischeWedichte

kaum einen treffendem Ausdruck dafür, daß ihm Friederikens Gegenwart köst¬
licher als alles sei. B. erklärt nebenbei "diese Gabe" ganz irrig: "die Freude
über die Rückkehr der Geliebten"; offenbar ist die Freude, sie wiederzusehen,
gemeint, die er schon jetzt in Gedanken genießt. Nur den Ausdruck "geht
nicht über in mein Lied" möchte man als weniger gelungen dem jungen
Dichter verzeihen müssen.

Der angekündigte Besuch wird bald gefolgt sein, wohl noch im Anfange
des März, aber kaum dürfte sich schon damals das schöne Paar das Wort
gegeben haben, sich unzertrennlich anzugehören. Dies geschah wohl erst bei Goethes
folgender längerer Anwesenheit, etwa am Ostermontag, wo sich auch im Elsas;
Verwandte und Bekannte fröhlich zusammenzufinden pflegten (er fiel 1771
auf den 1. April), oder am Geburtstage des Vaters, am 11. April. Wie
wenig zuverlässig auch die Zeitangaben in "Wahrheit und Dichtung" sein
mögen, zu Goethes wirklichen Erinnerungen dürfte es gehören, daß an dem
Tage, wo eine festliche Zusammenkunft das Seseuheimer Pfarrhaus belebte,
Goethe die Versicherung von Friederikens entschiedner Neigung erhalten hat. Da¬
für spricht anch der von ihrer Schwester treu im Gedächtnis behaltne Weihe-
sprnch auf einer Gedenktafel, die im Nachtigallwäldel an eine der hohen Buchen
angenagelt wurde: oben standen die Namen der Gäste, zuunterst der des
Dichters mit der Strophe: "Dem Himmel wachs entgegen," in der geläufigen
abwechselnd reimenden nchtversigen Strophenform. Die Echtheit der Verse ist,
so viel ich weiß, nicht angezweifelt worden, wenn man von der überraschenden
allgemeinen Verdächtigung der Weimarer Ausgabe absieht; doch meinen die
"Studien" (S. 40), die Namen müßten in den Baum eingeschnitten gewesen
sein, weil sonst der Wunsch, das Holz möge von Wetter, Sturm und Regen
verschont bleiben, keinen Sinn habe. Aber der dichterisch ausgeführte Weihe¬
spruch wünscht eigentlich nnr, daß der allen hohen Bäumen gefährliche Blitz
diese Buche nicht treffen möge, da dann auch die angenagelte Holztafel
Schaden leiden würde. Übersehen ist dabei, daß nicht die bloßen Anfangs¬
buchstaben der Namen, sondern die Namen selbst dort standen, und darunter
die acht Verse, die doch kaum in den Baum eingeschnitten sein konnten.
Auf denselben Tag oder die folgende Nacht müssen die sechs ländischen Verse
(in derselben Reiinfvrm wie die nenn früher erwähnten "Ich komme bald, ihr
goldnen Kinder") fallen: "Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle." Der Dichter
spricht in diesen für den Charakter Goethes höchst bedeutenden Versen seine
Seligkeit aus, daß er sich beim Spiele das Herz des Engels gewonnen habe,
und diese nun von Herzen ihm gehöre; aber zugleich bittet er das Schicksal,
daß diese Liebe Bestand haben und er der Geliebten würdig sein möge. Ich
verstehe nicht, wie B. die Verse als frühestes Lied (ein Lied ist es gar nicht)
betrachten und es "kurz nach dem ersten Zusammenfinden beider Herzen,"
ungefähr gleichzeitig mit dem Briefe an Horn vom Dezember 1770, setzen kann;


Goethes Straßburger lyrischeWedichte

kaum einen treffendem Ausdruck dafür, daß ihm Friederikens Gegenwart köst¬
licher als alles sei. B. erklärt nebenbei „diese Gabe" ganz irrig: „die Freude
über die Rückkehr der Geliebten"; offenbar ist die Freude, sie wiederzusehen,
gemeint, die er schon jetzt in Gedanken genießt. Nur den Ausdruck „geht
nicht über in mein Lied" möchte man als weniger gelungen dem jungen
Dichter verzeihen müssen.

Der angekündigte Besuch wird bald gefolgt sein, wohl noch im Anfange
des März, aber kaum dürfte sich schon damals das schöne Paar das Wort
gegeben haben, sich unzertrennlich anzugehören. Dies geschah wohl erst bei Goethes
folgender längerer Anwesenheit, etwa am Ostermontag, wo sich auch im Elsas;
Verwandte und Bekannte fröhlich zusammenzufinden pflegten (er fiel 1771
auf den 1. April), oder am Geburtstage des Vaters, am 11. April. Wie
wenig zuverlässig auch die Zeitangaben in „Wahrheit und Dichtung" sein
mögen, zu Goethes wirklichen Erinnerungen dürfte es gehören, daß an dem
Tage, wo eine festliche Zusammenkunft das Seseuheimer Pfarrhaus belebte,
Goethe die Versicherung von Friederikens entschiedner Neigung erhalten hat. Da¬
für spricht anch der von ihrer Schwester treu im Gedächtnis behaltne Weihe-
sprnch auf einer Gedenktafel, die im Nachtigallwäldel an eine der hohen Buchen
angenagelt wurde: oben standen die Namen der Gäste, zuunterst der des
Dichters mit der Strophe: „Dem Himmel wachs entgegen," in der geläufigen
abwechselnd reimenden nchtversigen Strophenform. Die Echtheit der Verse ist,
so viel ich weiß, nicht angezweifelt worden, wenn man von der überraschenden
allgemeinen Verdächtigung der Weimarer Ausgabe absieht; doch meinen die
„Studien" (S. 40), die Namen müßten in den Baum eingeschnitten gewesen
sein, weil sonst der Wunsch, das Holz möge von Wetter, Sturm und Regen
verschont bleiben, keinen Sinn habe. Aber der dichterisch ausgeführte Weihe¬
spruch wünscht eigentlich nnr, daß der allen hohen Bäumen gefährliche Blitz
diese Buche nicht treffen möge, da dann auch die angenagelte Holztafel
Schaden leiden würde. Übersehen ist dabei, daß nicht die bloßen Anfangs¬
buchstaben der Namen, sondern die Namen selbst dort standen, und darunter
die acht Verse, die doch kaum in den Baum eingeschnitten sein konnten.
Auf denselben Tag oder die folgende Nacht müssen die sechs ländischen Verse
(in derselben Reiinfvrm wie die nenn früher erwähnten „Ich komme bald, ihr
goldnen Kinder") fallen: „Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle." Der Dichter
spricht in diesen für den Charakter Goethes höchst bedeutenden Versen seine
Seligkeit aus, daß er sich beim Spiele das Herz des Engels gewonnen habe,
und diese nun von Herzen ihm gehöre; aber zugleich bittet er das Schicksal,
daß diese Liebe Bestand haben und er der Geliebten würdig sein möge. Ich
verstehe nicht, wie B. die Verse als frühestes Lied (ein Lied ist es gar nicht)
betrachten und es „kurz nach dem ersten Zusammenfinden beider Herzen,"
ungefähr gleichzeitig mit dem Briefe an Horn vom Dezember 1770, setzen kann;


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0639" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211807"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Straßburger lyrischeWedichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1964" prev="#ID_1963"> kaum einen treffendem Ausdruck dafür, daß ihm Friederikens Gegenwart köst¬<lb/>
licher als alles sei. B. erklärt nebenbei &#x201E;diese Gabe" ganz irrig: &#x201E;die Freude<lb/>
über die Rückkehr der Geliebten"; offenbar ist die Freude, sie wiederzusehen,<lb/>
gemeint, die er schon jetzt in Gedanken genießt. Nur den Ausdruck &#x201E;geht<lb/>
nicht über in mein Lied" möchte man als weniger gelungen dem jungen<lb/>
Dichter verzeihen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1965" next="#ID_1966"> Der angekündigte Besuch wird bald gefolgt sein, wohl noch im Anfange<lb/>
des März, aber kaum dürfte sich schon damals das schöne Paar das Wort<lb/>
gegeben haben, sich unzertrennlich anzugehören. Dies geschah wohl erst bei Goethes<lb/>
folgender längerer Anwesenheit, etwa am Ostermontag, wo sich auch im Elsas;<lb/>
Verwandte und Bekannte fröhlich zusammenzufinden pflegten (er fiel 1771<lb/>
auf den 1. April), oder am Geburtstage des Vaters, am 11. April. Wie<lb/>
wenig zuverlässig auch die Zeitangaben in &#x201E;Wahrheit und Dichtung" sein<lb/>
mögen, zu Goethes wirklichen Erinnerungen dürfte es gehören, daß an dem<lb/>
Tage, wo eine festliche Zusammenkunft das Seseuheimer Pfarrhaus belebte,<lb/>
Goethe die Versicherung von Friederikens entschiedner Neigung erhalten hat. Da¬<lb/>
für spricht anch der von ihrer Schwester treu im Gedächtnis behaltne Weihe-<lb/>
sprnch auf einer Gedenktafel, die im Nachtigallwäldel an eine der hohen Buchen<lb/>
angenagelt wurde: oben standen die Namen der Gäste, zuunterst der des<lb/>
Dichters mit der Strophe: &#x201E;Dem Himmel wachs entgegen," in der geläufigen<lb/>
abwechselnd reimenden nchtversigen Strophenform. Die Echtheit der Verse ist,<lb/>
so viel ich weiß, nicht angezweifelt worden, wenn man von der überraschenden<lb/>
allgemeinen Verdächtigung der Weimarer Ausgabe absieht; doch meinen die<lb/>
&#x201E;Studien" (S. 40), die Namen müßten in den Baum eingeschnitten gewesen<lb/>
sein, weil sonst der Wunsch, das Holz möge von Wetter, Sturm und Regen<lb/>
verschont bleiben, keinen Sinn habe. Aber der dichterisch ausgeführte Weihe¬<lb/>
spruch wünscht eigentlich nnr, daß der allen hohen Bäumen gefährliche Blitz<lb/>
diese Buche nicht treffen möge, da dann auch die angenagelte Holztafel<lb/>
Schaden leiden würde. Übersehen ist dabei, daß nicht die bloßen Anfangs¬<lb/>
buchstaben der Namen, sondern die Namen selbst dort standen, und darunter<lb/>
die acht Verse, die doch kaum in den Baum eingeschnitten sein konnten.<lb/>
Auf denselben Tag oder die folgende Nacht müssen die sechs ländischen Verse<lb/>
(in derselben Reiinfvrm wie die nenn früher erwähnten &#x201E;Ich komme bald, ihr<lb/>
goldnen Kinder") fallen: &#x201E;Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle." Der Dichter<lb/>
spricht in diesen für den Charakter Goethes höchst bedeutenden Versen seine<lb/>
Seligkeit aus, daß er sich beim Spiele das Herz des Engels gewonnen habe,<lb/>
und diese nun von Herzen ihm gehöre; aber zugleich bittet er das Schicksal,<lb/>
daß diese Liebe Bestand haben und er der Geliebten würdig sein möge. Ich<lb/>
verstehe nicht, wie B. die Verse als frühestes Lied (ein Lied ist es gar nicht)<lb/>
betrachten und es &#x201E;kurz nach dem ersten Zusammenfinden beider Herzen,"<lb/>
ungefähr gleichzeitig mit dem Briefe an Horn vom Dezember 1770, setzen kann;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0639] Goethes Straßburger lyrischeWedichte kaum einen treffendem Ausdruck dafür, daß ihm Friederikens Gegenwart köst¬ licher als alles sei. B. erklärt nebenbei „diese Gabe" ganz irrig: „die Freude über die Rückkehr der Geliebten"; offenbar ist die Freude, sie wiederzusehen, gemeint, die er schon jetzt in Gedanken genießt. Nur den Ausdruck „geht nicht über in mein Lied" möchte man als weniger gelungen dem jungen Dichter verzeihen müssen. Der angekündigte Besuch wird bald gefolgt sein, wohl noch im Anfange des März, aber kaum dürfte sich schon damals das schöne Paar das Wort gegeben haben, sich unzertrennlich anzugehören. Dies geschah wohl erst bei Goethes folgender längerer Anwesenheit, etwa am Ostermontag, wo sich auch im Elsas; Verwandte und Bekannte fröhlich zusammenzufinden pflegten (er fiel 1771 auf den 1. April), oder am Geburtstage des Vaters, am 11. April. Wie wenig zuverlässig auch die Zeitangaben in „Wahrheit und Dichtung" sein mögen, zu Goethes wirklichen Erinnerungen dürfte es gehören, daß an dem Tage, wo eine festliche Zusammenkunft das Seseuheimer Pfarrhaus belebte, Goethe die Versicherung von Friederikens entschiedner Neigung erhalten hat. Da¬ für spricht anch der von ihrer Schwester treu im Gedächtnis behaltne Weihe- sprnch auf einer Gedenktafel, die im Nachtigallwäldel an eine der hohen Buchen angenagelt wurde: oben standen die Namen der Gäste, zuunterst der des Dichters mit der Strophe: „Dem Himmel wachs entgegen," in der geläufigen abwechselnd reimenden nchtversigen Strophenform. Die Echtheit der Verse ist, so viel ich weiß, nicht angezweifelt worden, wenn man von der überraschenden allgemeinen Verdächtigung der Weimarer Ausgabe absieht; doch meinen die „Studien" (S. 40), die Namen müßten in den Baum eingeschnitten gewesen sein, weil sonst der Wunsch, das Holz möge von Wetter, Sturm und Regen verschont bleiben, keinen Sinn habe. Aber der dichterisch ausgeführte Weihe¬ spruch wünscht eigentlich nnr, daß der allen hohen Bäumen gefährliche Blitz diese Buche nicht treffen möge, da dann auch die angenagelte Holztafel Schaden leiden würde. Übersehen ist dabei, daß nicht die bloßen Anfangs¬ buchstaben der Namen, sondern die Namen selbst dort standen, und darunter die acht Verse, die doch kaum in den Baum eingeschnitten sein konnten. Auf denselben Tag oder die folgende Nacht müssen die sechs ländischen Verse (in derselben Reiinfvrm wie die nenn früher erwähnten „Ich komme bald, ihr goldnen Kinder") fallen: „Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle." Der Dichter spricht in diesen für den Charakter Goethes höchst bedeutenden Versen seine Seligkeit aus, daß er sich beim Spiele das Herz des Engels gewonnen habe, und diese nun von Herzen ihm gehöre; aber zugleich bittet er das Schicksal, daß diese Liebe Bestand haben und er der Geliebten würdig sein möge. Ich verstehe nicht, wie B. die Verse als frühestes Lied (ein Lied ist es gar nicht) betrachten und es „kurz nach dem ersten Zusammenfinden beider Herzen," ungefähr gleichzeitig mit dem Briefe an Horn vom Dezember 1770, setzen kann;

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/639
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/639>, abgerufen am 23.07.2024.