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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Studentenunruhen in Italien

Fall anwenden könne? Leider ist es so weit gekommen, daß die Jugend in
Italien für schlechthin gleichberechtigt mit den Erwachsenen angesehen wird.
Das ist die letzte Folgerung der Freiheit, sagen sie, und wer die Freiheit
will, der muß auch ihre letzten Folgerungen ziehen.

Wenn auch der Ausländer, der das schöne Italien zum erstenmale betritt,
auf den ersten Blick unwillkürlich von der goldnen Freiheit berückt wird, deren
sich die Italiener rühmen, so wird er doch, wenn er erst eine Zeit lang im
Lande geweilt hat, gewahr werden, daß es nur ein Zerrbild der Freiheit ist,
das ihm allerorten entgegentritt, daß, was man hier Freiheit heißt, in Wahr¬
heit Zuchtlosigkeit genannt zu werden verdient. Im Elternhause, in der Schule
hat es angefangen, auf der Universität, im öffentliche" Leben pflanzt es sich
fort, seinen Gipfel erreicht es im -- Abgeordnetenhause.

Als vor Jahren ein Franzose ein Buch veröffentlichte, worin er die Ein¬
drücke einer Reise in Italien schilderte und das Land kurzweg 1s pa^s als8
"A0i8w8 nannte, da wollten alle das herbe Urteil dem politischen Ärger in
die Schuhe schieben. Der Mann hatte aber gar nicht so Unrecht. Mit dem
Wort "Egoismus" ist der Grundcharakter des modernen Italiens am schlagendsten
ausgedrückt. Italien ist zuchtlos geworden, weil unter dem falschen Namen
der Freiheit der Egoismus des Einzelnen großgezogen worden ist. Wer freilich
den Italiener nur oberflächlich kennen lerirt, wird davon nichts gewahr. Denn
es ist ihm noch etwas kavaliermäßiges geblieben, was er namentlich den
Fremden gegenüber, gewandt wie er ist, gern heraussteckt; wer aber länger
im Lande weilt, mit der Gesellschaft in dauernden Verkehr kommt, der wird
mir unbedingt beipflichten, wenn ich sage, daß die "gute Gesellschaft" -- das
schwache Geschlecht nehme ich aus -- zuchtlos, ungezogen, egoistisch ist.

Ich wäre ungerecht, wenn ich verschweigen wollte, daß sich diese Über¬
zeugung auch in Italien Bahn bricht, und zwar auch bei Männern, die nicht
in den Verdacht kommen können, "Mucker" zu sein. So hat im vergangnen
Herbst der Abgeordnete Arbila seine warnende Stimme erhoben. "Das Be¬
wußtsein davon, sagte er, daß jeder auf dieser Welt gewisse feste Pflichte"
hat, denen er sich nicht entziehen darf, ist bei uns von Tag zu Tag schwächer
geworden. Jetzt sind wir so weit gekommen, daß es nur noch wenige giebt,
die aus innerstem Antrieb als etwas ganz selbstverständliches ihre Pflicht
thun. Dieser absolute Mangel an Zucht könnte ans den ersten Anblick als
ein kleines Übel erscheinen; aber in Wirklichkeit ist er ein schweres Übel, denn
er entwöhnt das ganze Volk, von seiner eignen Bequemlichkeit etwas für das
allgemeine Wohl zu opfern. Die sittliche Erschlaffung, die daraus folgt, kaun
das Land unfähig machen, ernsten Gefahren gegenüber zu treten, ernstere Auf¬
gaben auf sich zu nehmen, wie sie an alle Völker herantreten können. Wie
soll man im Augenblick der Gefahr mit einer Bevölkerung rechnen, in der
jeder nur thun will, was ihm beliebt, und wo der Gehorsam vor der Obrig-


Die Studentenunruhen in Italien

Fall anwenden könne? Leider ist es so weit gekommen, daß die Jugend in
Italien für schlechthin gleichberechtigt mit den Erwachsenen angesehen wird.
Das ist die letzte Folgerung der Freiheit, sagen sie, und wer die Freiheit
will, der muß auch ihre letzten Folgerungen ziehen.

Wenn auch der Ausländer, der das schöne Italien zum erstenmale betritt,
auf den ersten Blick unwillkürlich von der goldnen Freiheit berückt wird, deren
sich die Italiener rühmen, so wird er doch, wenn er erst eine Zeit lang im
Lande geweilt hat, gewahr werden, daß es nur ein Zerrbild der Freiheit ist,
das ihm allerorten entgegentritt, daß, was man hier Freiheit heißt, in Wahr¬
heit Zuchtlosigkeit genannt zu werden verdient. Im Elternhause, in der Schule
hat es angefangen, auf der Universität, im öffentliche» Leben pflanzt es sich
fort, seinen Gipfel erreicht es im — Abgeordnetenhause.

Als vor Jahren ein Franzose ein Buch veröffentlichte, worin er die Ein¬
drücke einer Reise in Italien schilderte und das Land kurzweg 1s pa^s als8
«A0i8w8 nannte, da wollten alle das herbe Urteil dem politischen Ärger in
die Schuhe schieben. Der Mann hatte aber gar nicht so Unrecht. Mit dem
Wort „Egoismus" ist der Grundcharakter des modernen Italiens am schlagendsten
ausgedrückt. Italien ist zuchtlos geworden, weil unter dem falschen Namen
der Freiheit der Egoismus des Einzelnen großgezogen worden ist. Wer freilich
den Italiener nur oberflächlich kennen lerirt, wird davon nichts gewahr. Denn
es ist ihm noch etwas kavaliermäßiges geblieben, was er namentlich den
Fremden gegenüber, gewandt wie er ist, gern heraussteckt; wer aber länger
im Lande weilt, mit der Gesellschaft in dauernden Verkehr kommt, der wird
mir unbedingt beipflichten, wenn ich sage, daß die „gute Gesellschaft" — das
schwache Geschlecht nehme ich aus — zuchtlos, ungezogen, egoistisch ist.

Ich wäre ungerecht, wenn ich verschweigen wollte, daß sich diese Über¬
zeugung auch in Italien Bahn bricht, und zwar auch bei Männern, die nicht
in den Verdacht kommen können, „Mucker" zu sein. So hat im vergangnen
Herbst der Abgeordnete Arbila seine warnende Stimme erhoben. „Das Be¬
wußtsein davon, sagte er, daß jeder auf dieser Welt gewisse feste Pflichte«
hat, denen er sich nicht entziehen darf, ist bei uns von Tag zu Tag schwächer
geworden. Jetzt sind wir so weit gekommen, daß es nur noch wenige giebt,
die aus innerstem Antrieb als etwas ganz selbstverständliches ihre Pflicht
thun. Dieser absolute Mangel an Zucht könnte ans den ersten Anblick als
ein kleines Übel erscheinen; aber in Wirklichkeit ist er ein schweres Übel, denn
er entwöhnt das ganze Volk, von seiner eignen Bequemlichkeit etwas für das
allgemeine Wohl zu opfern. Die sittliche Erschlaffung, die daraus folgt, kaun
das Land unfähig machen, ernsten Gefahren gegenüber zu treten, ernstere Auf¬
gaben auf sich zu nehmen, wie sie an alle Völker herantreten können. Wie
soll man im Augenblick der Gefahr mit einer Bevölkerung rechnen, in der
jeder nur thun will, was ihm beliebt, und wo der Gehorsam vor der Obrig-


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[0636] Die Studentenunruhen in Italien Fall anwenden könne? Leider ist es so weit gekommen, daß die Jugend in Italien für schlechthin gleichberechtigt mit den Erwachsenen angesehen wird. Das ist die letzte Folgerung der Freiheit, sagen sie, und wer die Freiheit will, der muß auch ihre letzten Folgerungen ziehen. Wenn auch der Ausländer, der das schöne Italien zum erstenmale betritt, auf den ersten Blick unwillkürlich von der goldnen Freiheit berückt wird, deren sich die Italiener rühmen, so wird er doch, wenn er erst eine Zeit lang im Lande geweilt hat, gewahr werden, daß es nur ein Zerrbild der Freiheit ist, das ihm allerorten entgegentritt, daß, was man hier Freiheit heißt, in Wahr¬ heit Zuchtlosigkeit genannt zu werden verdient. Im Elternhause, in der Schule hat es angefangen, auf der Universität, im öffentliche» Leben pflanzt es sich fort, seinen Gipfel erreicht es im — Abgeordnetenhause. Als vor Jahren ein Franzose ein Buch veröffentlichte, worin er die Ein¬ drücke einer Reise in Italien schilderte und das Land kurzweg 1s pa^s als8 «A0i8w8 nannte, da wollten alle das herbe Urteil dem politischen Ärger in die Schuhe schieben. Der Mann hatte aber gar nicht so Unrecht. Mit dem Wort „Egoismus" ist der Grundcharakter des modernen Italiens am schlagendsten ausgedrückt. Italien ist zuchtlos geworden, weil unter dem falschen Namen der Freiheit der Egoismus des Einzelnen großgezogen worden ist. Wer freilich den Italiener nur oberflächlich kennen lerirt, wird davon nichts gewahr. Denn es ist ihm noch etwas kavaliermäßiges geblieben, was er namentlich den Fremden gegenüber, gewandt wie er ist, gern heraussteckt; wer aber länger im Lande weilt, mit der Gesellschaft in dauernden Verkehr kommt, der wird mir unbedingt beipflichten, wenn ich sage, daß die „gute Gesellschaft" — das schwache Geschlecht nehme ich aus — zuchtlos, ungezogen, egoistisch ist. Ich wäre ungerecht, wenn ich verschweigen wollte, daß sich diese Über¬ zeugung auch in Italien Bahn bricht, und zwar auch bei Männern, die nicht in den Verdacht kommen können, „Mucker" zu sein. So hat im vergangnen Herbst der Abgeordnete Arbila seine warnende Stimme erhoben. „Das Be¬ wußtsein davon, sagte er, daß jeder auf dieser Welt gewisse feste Pflichte« hat, denen er sich nicht entziehen darf, ist bei uns von Tag zu Tag schwächer geworden. Jetzt sind wir so weit gekommen, daß es nur noch wenige giebt, die aus innerstem Antrieb als etwas ganz selbstverständliches ihre Pflicht thun. Dieser absolute Mangel an Zucht könnte ans den ersten Anblick als ein kleines Übel erscheinen; aber in Wirklichkeit ist er ein schweres Übel, denn er entwöhnt das ganze Volk, von seiner eignen Bequemlichkeit etwas für das allgemeine Wohl zu opfern. Die sittliche Erschlaffung, die daraus folgt, kaun das Land unfähig machen, ernsten Gefahren gegenüber zu treten, ernstere Auf¬ gaben auf sich zu nehmen, wie sie an alle Völker herantreten können. Wie soll man im Augenblick der Gefahr mit einer Bevölkerung rechnen, in der jeder nur thun will, was ihm beliebt, und wo der Gehorsam vor der Obrig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/636>, abgerufen am 23.07.2024.