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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Studentenunruhen in Italien

Mann machen. Sie kann das jn auch gar nicht, denn ihr Einfluß beschränkt
sich doch auf die kurze Zeit der Schulstunden. Vor der Thür des Schul¬
hauses ist der Schüler ein Staatsbürger gleich allen andern. Es sei ferne
von mir, der Beseitigung dieser Errungenschaft das Wort zu reden. Aber es
ist doch klar, daß in dem Augenblicke, wo der Einfluß des Lehrers aufhört,
der der Familie anfangen sollte, der viel natürlicher ist, daher viel wirksamer
sein könnte. Aber da liegt der Hund begraben. Die meisten Vater haben
einen ganz schlechten Begriff von ihren Pflichten. Sie glauben genug gethan
zu haben, wenn sie das Schulgeld bezahlt haben; für das weitere mag nun
der Lehrer sorgen. Und in diesem seligen Glauben fällt es ihnen gar nicht ein,
auf den Sohn und fein Thun und Treiben acht zu geben. Dieser wiederum
freut sich der goldnen Freiheit, kommt abends als der letzte nach Hanse,
besucht die Theater und die Kaffeehäuser, spielt Karten und Billard, bummelt
dnrch die Straßen, begafft jedes Frauenzimmer, das ihm in den Weg kommt,
und fängt, kaum den .Kinderschuhen entwachsen, mit den Dienstmädchen zärt¬
liche Verhältnisse an. Auf diese Weise mögen sich in ihm ja ganz besondre
Tugenden entwickeln; aber seine Studien schreiten damit gewiß eben so wenig
weiter als seine sittliche Entwicklung. Er lernt alles mögliche, nnr nicht die
Bezähmung seines eignen Willens; seine Energie wird auf falsche Bahnen
gelenkt, sie wird zum Eigensinn, wenn sie nicht einer allgemeinen Schlaffheit
Platz macht. Und wenn ihm auch schließlich einmal das Bewußtsein kommt,
daß er arbeiten sollte, so lehnt sich sein zerstreuter Kopf gegen jede geistige
Arbeit auf, und während seine zitternde Hand in den Büchern blättert, kehrt
seine Erinnerung zu der letzten Kartenpartie, zu dem Abenteuer des letzten
Abends, zu den Motiven der letzten Operettenaufführung zurück.

Kommt dann die Zeit der Prüfungen heran, und füllt, wie es nicht anders
zu erwarten ist, der Herr Sohn durch, so ergeht sich der Vater, statt an die
eigne Brust zu schlagen, in den herbsten Worten über den untauglichen, par¬
teiischen, pedantischen Lehrer. Dieselben Anklagen und Schmähungen treffen
aber auch das Haupt des Lehrers, der während des Schuljahres dem lieben
Söhnlein irgend eine Strafe hat zudiktiren wollen. Statt den Lehrer auf¬
zusuchen und sich von ihm berichten zu lasten, schenkt der Vater nnr den
Worten des Sohnes Gehör und verlangt schließlich, auf diesen Bericht pochend,
daß der Rektor gegen den ungerechten Lehrer einschreite, wobei er es selbst
an der Drohung nicht fehlen läßt, sich dnrch den Mund eines willigen Ab¬
geordneten an höchster Stelle beschweren zu wollen. Leider sind derartige Dro¬
hungen meist wirksam, denn die Fälle, wo ein Lehrer oder ein zu seinen Kollegen
haltender Direktor einem erbosten Bater seine plötzliche Versetzung aus irgend
einen Seeplatz nach Calabrien oder Sardinien zu verdanken hatte, stehen den
Lehrern allzu drohend vor den Augen, als daß sie nicht in den meisten Fällen
selbst schweren Übertretungen gegenüber entweder die Ange" schließen oder


Die Studentenunruhen in Italien

Mann machen. Sie kann das jn auch gar nicht, denn ihr Einfluß beschränkt
sich doch auf die kurze Zeit der Schulstunden. Vor der Thür des Schul¬
hauses ist der Schüler ein Staatsbürger gleich allen andern. Es sei ferne
von mir, der Beseitigung dieser Errungenschaft das Wort zu reden. Aber es
ist doch klar, daß in dem Augenblicke, wo der Einfluß des Lehrers aufhört,
der der Familie anfangen sollte, der viel natürlicher ist, daher viel wirksamer
sein könnte. Aber da liegt der Hund begraben. Die meisten Vater haben
einen ganz schlechten Begriff von ihren Pflichten. Sie glauben genug gethan
zu haben, wenn sie das Schulgeld bezahlt haben; für das weitere mag nun
der Lehrer sorgen. Und in diesem seligen Glauben fällt es ihnen gar nicht ein,
auf den Sohn und fein Thun und Treiben acht zu geben. Dieser wiederum
freut sich der goldnen Freiheit, kommt abends als der letzte nach Hanse,
besucht die Theater und die Kaffeehäuser, spielt Karten und Billard, bummelt
dnrch die Straßen, begafft jedes Frauenzimmer, das ihm in den Weg kommt,
und fängt, kaum den .Kinderschuhen entwachsen, mit den Dienstmädchen zärt¬
liche Verhältnisse an. Auf diese Weise mögen sich in ihm ja ganz besondre
Tugenden entwickeln; aber seine Studien schreiten damit gewiß eben so wenig
weiter als seine sittliche Entwicklung. Er lernt alles mögliche, nnr nicht die
Bezähmung seines eignen Willens; seine Energie wird auf falsche Bahnen
gelenkt, sie wird zum Eigensinn, wenn sie nicht einer allgemeinen Schlaffheit
Platz macht. Und wenn ihm auch schließlich einmal das Bewußtsein kommt,
daß er arbeiten sollte, so lehnt sich sein zerstreuter Kopf gegen jede geistige
Arbeit auf, und während seine zitternde Hand in den Büchern blättert, kehrt
seine Erinnerung zu der letzten Kartenpartie, zu dem Abenteuer des letzten
Abends, zu den Motiven der letzten Operettenaufführung zurück.

Kommt dann die Zeit der Prüfungen heran, und füllt, wie es nicht anders
zu erwarten ist, der Herr Sohn durch, so ergeht sich der Vater, statt an die
eigne Brust zu schlagen, in den herbsten Worten über den untauglichen, par¬
teiischen, pedantischen Lehrer. Dieselben Anklagen und Schmähungen treffen
aber auch das Haupt des Lehrers, der während des Schuljahres dem lieben
Söhnlein irgend eine Strafe hat zudiktiren wollen. Statt den Lehrer auf¬
zusuchen und sich von ihm berichten zu lasten, schenkt der Vater nnr den
Worten des Sohnes Gehör und verlangt schließlich, auf diesen Bericht pochend,
daß der Rektor gegen den ungerechten Lehrer einschreite, wobei er es selbst
an der Drohung nicht fehlen läßt, sich dnrch den Mund eines willigen Ab¬
geordneten an höchster Stelle beschweren zu wollen. Leider sind derartige Dro¬
hungen meist wirksam, denn die Fälle, wo ein Lehrer oder ein zu seinen Kollegen
haltender Direktor einem erbosten Bater seine plötzliche Versetzung aus irgend
einen Seeplatz nach Calabrien oder Sardinien zu verdanken hatte, stehen den
Lehrern allzu drohend vor den Augen, als daß sie nicht in den meisten Fällen
selbst schweren Übertretungen gegenüber entweder die Ange» schließen oder


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[0634] Die Studentenunruhen in Italien Mann machen. Sie kann das jn auch gar nicht, denn ihr Einfluß beschränkt sich doch auf die kurze Zeit der Schulstunden. Vor der Thür des Schul¬ hauses ist der Schüler ein Staatsbürger gleich allen andern. Es sei ferne von mir, der Beseitigung dieser Errungenschaft das Wort zu reden. Aber es ist doch klar, daß in dem Augenblicke, wo der Einfluß des Lehrers aufhört, der der Familie anfangen sollte, der viel natürlicher ist, daher viel wirksamer sein könnte. Aber da liegt der Hund begraben. Die meisten Vater haben einen ganz schlechten Begriff von ihren Pflichten. Sie glauben genug gethan zu haben, wenn sie das Schulgeld bezahlt haben; für das weitere mag nun der Lehrer sorgen. Und in diesem seligen Glauben fällt es ihnen gar nicht ein, auf den Sohn und fein Thun und Treiben acht zu geben. Dieser wiederum freut sich der goldnen Freiheit, kommt abends als der letzte nach Hanse, besucht die Theater und die Kaffeehäuser, spielt Karten und Billard, bummelt dnrch die Straßen, begafft jedes Frauenzimmer, das ihm in den Weg kommt, und fängt, kaum den .Kinderschuhen entwachsen, mit den Dienstmädchen zärt¬ liche Verhältnisse an. Auf diese Weise mögen sich in ihm ja ganz besondre Tugenden entwickeln; aber seine Studien schreiten damit gewiß eben so wenig weiter als seine sittliche Entwicklung. Er lernt alles mögliche, nnr nicht die Bezähmung seines eignen Willens; seine Energie wird auf falsche Bahnen gelenkt, sie wird zum Eigensinn, wenn sie nicht einer allgemeinen Schlaffheit Platz macht. Und wenn ihm auch schließlich einmal das Bewußtsein kommt, daß er arbeiten sollte, so lehnt sich sein zerstreuter Kopf gegen jede geistige Arbeit auf, und während seine zitternde Hand in den Büchern blättert, kehrt seine Erinnerung zu der letzten Kartenpartie, zu dem Abenteuer des letzten Abends, zu den Motiven der letzten Operettenaufführung zurück. Kommt dann die Zeit der Prüfungen heran, und füllt, wie es nicht anders zu erwarten ist, der Herr Sohn durch, so ergeht sich der Vater, statt an die eigne Brust zu schlagen, in den herbsten Worten über den untauglichen, par¬ teiischen, pedantischen Lehrer. Dieselben Anklagen und Schmähungen treffen aber auch das Haupt des Lehrers, der während des Schuljahres dem lieben Söhnlein irgend eine Strafe hat zudiktiren wollen. Statt den Lehrer auf¬ zusuchen und sich von ihm berichten zu lasten, schenkt der Vater nnr den Worten des Sohnes Gehör und verlangt schließlich, auf diesen Bericht pochend, daß der Rektor gegen den ungerechten Lehrer einschreite, wobei er es selbst an der Drohung nicht fehlen läßt, sich dnrch den Mund eines willigen Ab¬ geordneten an höchster Stelle beschweren zu wollen. Leider sind derartige Dro¬ hungen meist wirksam, denn die Fälle, wo ein Lehrer oder ein zu seinen Kollegen haltender Direktor einem erbosten Bater seine plötzliche Versetzung aus irgend einen Seeplatz nach Calabrien oder Sardinien zu verdanken hatte, stehen den Lehrern allzu drohend vor den Augen, als daß sie nicht in den meisten Fällen selbst schweren Übertretungen gegenüber entweder die Ange» schließen oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/634>, abgerufen am 23.07.2024.