Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Studentennnruhen in Italien

beugt sich unter ihren Willen. Damit geht natürlich der Respekt vor den
Eltern in die Brüche. Nicht als ob die armen Väter das nicht bemerkten!
Aber sie trösten sich mit dem Gedanken, daß sich die Söhne auf diese Weise
freier entwickeln und, wenn sie groß geworden sein und selber zu denken an¬
gefangen haben würden, schon von selber das Rechte finden würden.

Diese verkehrte Denk- und Handlungsweise beruht offenbar auf einer
falschen Auffassung des Fortschritts und der Freiheit. Nur so läßt sie sich
begreifen. Das heutige Geschlecht ist in einer Zeit aufgewachsen, wo Rebellion
eine Tugend war, weil Italien in fremden Banden schmachtete. Der brennende
Durst nach Freiheit und selbständiger Entwicklung wurde zwar mit der
Einigung Italiens gestillt, aber der Abscheu gegen alle Unterdrückung pflanzte
sich noch immer kräftig fort. Auf die Periode der Knechtschaft mußte eine
Reaktion folgen. Das frühere Geschlecht, das das hohe Gut der goldnen
Freiheit lange genug entbehrt hatte, überließ sich, als dieses endlich errungen
war, ganz dem Taumel der Freiheit. Und in der frischen Erinnerung an
die ausgestandner Leiden sagte man sich: "schmälern wir unsern Kindern
nicht die Freiheit, sonst würden wir ja zu Verrätern an den Idealen werden, für
die wir gekämpft und geblutet haben." Es wurde mit allem gebrochen, was
nur von ferne den frühern Zuständen des Druckes gleich sah. Freiheit!
wisLizr l'girö! laisser g.llsr! Wenn auch vielleicht manchem Vater der Ge¬
danke kam, ob denn dieses Übermaß von Freiheit, das der heranwachsenden
Jugend gewährt wurde, uicht zu schlimmen Folgen führen müsse, wenn ihm
mich die Zügellosigkeit des Sohnes einmal als offne Rebellion erscheinen
wollte, so wurde doch dieser Gedanke sofort wieder unterdrückt. Denn war
der Vater nicht auch ein Rebell gewesen? und rechnete er sich das nicht heute
noch als Tugend an? Hatte seine Rebellion nicht die herrlichsten Früchte ge¬
tragen? Durfte er also dem Sohne verweigern, was er für sich selbst bean¬
sprucht und was ihn zum Manne gemacht hatte? Wenn diese armen Väter
ihre Lage mit der des Sohnes, ihre Rebellion mit der des Nachwuchses ver¬
glichen, so mußten sie der Irrigkeit ihres Schlusses sofort imie werden; aber
das Unglück ist eben, daß sich bis zu diesem Vergleich keiner versteigt. Und
wenn einmal einer seine warnende Stimme erhebt, so wird er niedergeschrieen:
"Willst dn die Zeiten der Österreicher wieder heraufbeschwören? Hast du
unsre höchsten Ideale schon wieder vergessen? steinigt ihn, den Reaktionär!"

So leidet schon die häusliche Erziehung an dem großen Übel, daß
sie sozusagen gleich Null ist. Nun setzen viele ihre Hoffnung auf die Schule.
Aber während sie auf der einen Seite von der Schule mehr verlangen, als
diese geben kaun, verweigern sie ihr auf der andern die thätige Beihilfe andrer
gesellschaftlicher Einrichtungen. Die Schule kann doch nicht der einzige Tempel
der nationalen Bildung und Erziehung sein; man kann doch nicht von ihr
verlangen, daß sie allein alle die Kenntnisse und Tilgenden zeitige, die den


Grenzboten I 1893 79
Die Studentennnruhen in Italien

beugt sich unter ihren Willen. Damit geht natürlich der Respekt vor den
Eltern in die Brüche. Nicht als ob die armen Väter das nicht bemerkten!
Aber sie trösten sich mit dem Gedanken, daß sich die Söhne auf diese Weise
freier entwickeln und, wenn sie groß geworden sein und selber zu denken an¬
gefangen haben würden, schon von selber das Rechte finden würden.

Diese verkehrte Denk- und Handlungsweise beruht offenbar auf einer
falschen Auffassung des Fortschritts und der Freiheit. Nur so läßt sie sich
begreifen. Das heutige Geschlecht ist in einer Zeit aufgewachsen, wo Rebellion
eine Tugend war, weil Italien in fremden Banden schmachtete. Der brennende
Durst nach Freiheit und selbständiger Entwicklung wurde zwar mit der
Einigung Italiens gestillt, aber der Abscheu gegen alle Unterdrückung pflanzte
sich noch immer kräftig fort. Auf die Periode der Knechtschaft mußte eine
Reaktion folgen. Das frühere Geschlecht, das das hohe Gut der goldnen
Freiheit lange genug entbehrt hatte, überließ sich, als dieses endlich errungen
war, ganz dem Taumel der Freiheit. Und in der frischen Erinnerung an
die ausgestandner Leiden sagte man sich: „schmälern wir unsern Kindern
nicht die Freiheit, sonst würden wir ja zu Verrätern an den Idealen werden, für
die wir gekämpft und geblutet haben." Es wurde mit allem gebrochen, was
nur von ferne den frühern Zuständen des Druckes gleich sah. Freiheit!
wisLizr l'girö! laisser g.llsr! Wenn auch vielleicht manchem Vater der Ge¬
danke kam, ob denn dieses Übermaß von Freiheit, das der heranwachsenden
Jugend gewährt wurde, uicht zu schlimmen Folgen führen müsse, wenn ihm
mich die Zügellosigkeit des Sohnes einmal als offne Rebellion erscheinen
wollte, so wurde doch dieser Gedanke sofort wieder unterdrückt. Denn war
der Vater nicht auch ein Rebell gewesen? und rechnete er sich das nicht heute
noch als Tugend an? Hatte seine Rebellion nicht die herrlichsten Früchte ge¬
tragen? Durfte er also dem Sohne verweigern, was er für sich selbst bean¬
sprucht und was ihn zum Manne gemacht hatte? Wenn diese armen Väter
ihre Lage mit der des Sohnes, ihre Rebellion mit der des Nachwuchses ver¬
glichen, so mußten sie der Irrigkeit ihres Schlusses sofort imie werden; aber
das Unglück ist eben, daß sich bis zu diesem Vergleich keiner versteigt. Und
wenn einmal einer seine warnende Stimme erhebt, so wird er niedergeschrieen:
„Willst dn die Zeiten der Österreicher wieder heraufbeschwören? Hast du
unsre höchsten Ideale schon wieder vergessen? steinigt ihn, den Reaktionär!"

So leidet schon die häusliche Erziehung an dem großen Übel, daß
sie sozusagen gleich Null ist. Nun setzen viele ihre Hoffnung auf die Schule.
Aber während sie auf der einen Seite von der Schule mehr verlangen, als
diese geben kaun, verweigern sie ihr auf der andern die thätige Beihilfe andrer
gesellschaftlicher Einrichtungen. Die Schule kann doch nicht der einzige Tempel
der nationalen Bildung und Erziehung sein; man kann doch nicht von ihr
verlangen, daß sie allein alle die Kenntnisse und Tilgenden zeitige, die den


Grenzboten I 1893 79
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211801"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Studentennnruhen in Italien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1950" prev="#ID_1949"> beugt sich unter ihren Willen. Damit geht natürlich der Respekt vor den<lb/>
Eltern in die Brüche. Nicht als ob die armen Väter das nicht bemerkten!<lb/>
Aber sie trösten sich mit dem Gedanken, daß sich die Söhne auf diese Weise<lb/>
freier entwickeln und, wenn sie groß geworden sein und selber zu denken an¬<lb/>
gefangen haben würden, schon von selber das Rechte finden würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1951"> Diese verkehrte Denk- und Handlungsweise beruht offenbar auf einer<lb/>
falschen Auffassung des Fortschritts und der Freiheit. Nur so läßt sie sich<lb/>
begreifen. Das heutige Geschlecht ist in einer Zeit aufgewachsen, wo Rebellion<lb/>
eine Tugend war, weil Italien in fremden Banden schmachtete. Der brennende<lb/>
Durst nach Freiheit und selbständiger Entwicklung wurde zwar mit der<lb/>
Einigung Italiens gestillt, aber der Abscheu gegen alle Unterdrückung pflanzte<lb/>
sich noch immer kräftig fort. Auf die Periode der Knechtschaft mußte eine<lb/>
Reaktion folgen. Das frühere Geschlecht, das das hohe Gut der goldnen<lb/>
Freiheit lange genug entbehrt hatte, überließ sich, als dieses endlich errungen<lb/>
war, ganz dem Taumel der Freiheit. Und in der frischen Erinnerung an<lb/>
die ausgestandner Leiden sagte man sich: &#x201E;schmälern wir unsern Kindern<lb/>
nicht die Freiheit, sonst würden wir ja zu Verrätern an den Idealen werden, für<lb/>
die wir gekämpft und geblutet haben." Es wurde mit allem gebrochen, was<lb/>
nur von ferne den frühern Zuständen des Druckes gleich sah. Freiheit!<lb/>
wisLizr l'girö! laisser g.llsr! Wenn auch vielleicht manchem Vater der Ge¬<lb/>
danke kam, ob denn dieses Übermaß von Freiheit, das der heranwachsenden<lb/>
Jugend gewährt wurde, uicht zu schlimmen Folgen führen müsse, wenn ihm<lb/>
mich die Zügellosigkeit des Sohnes einmal als offne Rebellion erscheinen<lb/>
wollte, so wurde doch dieser Gedanke sofort wieder unterdrückt. Denn war<lb/>
der Vater nicht auch ein Rebell gewesen? und rechnete er sich das nicht heute<lb/>
noch als Tugend an? Hatte seine Rebellion nicht die herrlichsten Früchte ge¬<lb/>
tragen? Durfte er also dem Sohne verweigern, was er für sich selbst bean¬<lb/>
sprucht und was ihn zum Manne gemacht hatte? Wenn diese armen Väter<lb/>
ihre Lage mit der des Sohnes, ihre Rebellion mit der des Nachwuchses ver¬<lb/>
glichen, so mußten sie der Irrigkeit ihres Schlusses sofort imie werden; aber<lb/>
das Unglück ist eben, daß sich bis zu diesem Vergleich keiner versteigt. Und<lb/>
wenn einmal einer seine warnende Stimme erhebt, so wird er niedergeschrieen:<lb/>
&#x201E;Willst dn die Zeiten der Österreicher wieder heraufbeschwören? Hast du<lb/>
unsre höchsten Ideale schon wieder vergessen? steinigt ihn, den Reaktionär!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1952" next="#ID_1953"> So leidet schon die häusliche Erziehung an dem großen Übel, daß<lb/>
sie sozusagen gleich Null ist. Nun setzen viele ihre Hoffnung auf die Schule.<lb/>
Aber während sie auf der einen Seite von der Schule mehr verlangen, als<lb/>
diese geben kaun, verweigern sie ihr auf der andern die thätige Beihilfe andrer<lb/>
gesellschaftlicher Einrichtungen. Die Schule kann doch nicht der einzige Tempel<lb/>
der nationalen Bildung und Erziehung sein; man kann doch nicht von ihr<lb/>
verlangen, daß sie allein alle die Kenntnisse und Tilgenden zeitige, die den</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1893 79</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0633] Die Studentennnruhen in Italien beugt sich unter ihren Willen. Damit geht natürlich der Respekt vor den Eltern in die Brüche. Nicht als ob die armen Väter das nicht bemerkten! Aber sie trösten sich mit dem Gedanken, daß sich die Söhne auf diese Weise freier entwickeln und, wenn sie groß geworden sein und selber zu denken an¬ gefangen haben würden, schon von selber das Rechte finden würden. Diese verkehrte Denk- und Handlungsweise beruht offenbar auf einer falschen Auffassung des Fortschritts und der Freiheit. Nur so läßt sie sich begreifen. Das heutige Geschlecht ist in einer Zeit aufgewachsen, wo Rebellion eine Tugend war, weil Italien in fremden Banden schmachtete. Der brennende Durst nach Freiheit und selbständiger Entwicklung wurde zwar mit der Einigung Italiens gestillt, aber der Abscheu gegen alle Unterdrückung pflanzte sich noch immer kräftig fort. Auf die Periode der Knechtschaft mußte eine Reaktion folgen. Das frühere Geschlecht, das das hohe Gut der goldnen Freiheit lange genug entbehrt hatte, überließ sich, als dieses endlich errungen war, ganz dem Taumel der Freiheit. Und in der frischen Erinnerung an die ausgestandner Leiden sagte man sich: „schmälern wir unsern Kindern nicht die Freiheit, sonst würden wir ja zu Verrätern an den Idealen werden, für die wir gekämpft und geblutet haben." Es wurde mit allem gebrochen, was nur von ferne den frühern Zuständen des Druckes gleich sah. Freiheit! wisLizr l'girö! laisser g.llsr! Wenn auch vielleicht manchem Vater der Ge¬ danke kam, ob denn dieses Übermaß von Freiheit, das der heranwachsenden Jugend gewährt wurde, uicht zu schlimmen Folgen führen müsse, wenn ihm mich die Zügellosigkeit des Sohnes einmal als offne Rebellion erscheinen wollte, so wurde doch dieser Gedanke sofort wieder unterdrückt. Denn war der Vater nicht auch ein Rebell gewesen? und rechnete er sich das nicht heute noch als Tugend an? Hatte seine Rebellion nicht die herrlichsten Früchte ge¬ tragen? Durfte er also dem Sohne verweigern, was er für sich selbst bean¬ sprucht und was ihn zum Manne gemacht hatte? Wenn diese armen Väter ihre Lage mit der des Sohnes, ihre Rebellion mit der des Nachwuchses ver¬ glichen, so mußten sie der Irrigkeit ihres Schlusses sofort imie werden; aber das Unglück ist eben, daß sich bis zu diesem Vergleich keiner versteigt. Und wenn einmal einer seine warnende Stimme erhebt, so wird er niedergeschrieen: „Willst dn die Zeiten der Österreicher wieder heraufbeschwören? Hast du unsre höchsten Ideale schon wieder vergessen? steinigt ihn, den Reaktionär!" So leidet schon die häusliche Erziehung an dem großen Übel, daß sie sozusagen gleich Null ist. Nun setzen viele ihre Hoffnung auf die Schule. Aber während sie auf der einen Seite von der Schule mehr verlangen, als diese geben kaun, verweigern sie ihr auf der andern die thätige Beihilfe andrer gesellschaftlicher Einrichtungen. Die Schule kann doch nicht der einzige Tempel der nationalen Bildung und Erziehung sein; man kann doch nicht von ihr verlangen, daß sie allein alle die Kenntnisse und Tilgenden zeitige, die den Grenzboten I 1893 79

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/633
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/633>, abgerufen am 23.07.2024.