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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Studentennnruhen in Italien

ernstlicher Erziehung schon vom Elternhause her. Die Minister können daher
die besten Gesetze ersinnen, die akademischen Senate und die einzelnen Pro¬
fessoren können so streng sein, wie sie wollen, der Zweck wird nie erreicht
werden, denn die, mit denen sie es thun haben, sind schon viel zu sehr an
eine verfehlte Erziehungsmethode gewöhnt, als daß sie sich jetzt in einem
Alter, wo sie vollends selber zu denken und sich zu fühlen anfangen, ohne weiteres
unter eine Autorität, und wäre es die des ganzen Landes, beugen sollten.

So bitter es ist, so muß es doch offen gesagt werden: die ganze Er¬
ziehung in Italien ist auf falschen Bahnen, denn es fehlt ihr der Grundsatz
der Autorität. Die italienische Jugend kennt weder Respekt vor den Eltern,
noch vor der Wissenschaft, noch vor der Arbeit, noch vor sonst etwas, denn
sie wird von klein an nicht daran gewöhnt. Kaum sind die Kinder geboren,
so werden sie zu eiuer Amme aufs Land hinaufgebracht; dieser Sitte huldige"
alle Familien, die es nur einigermaßen mit ihren Mitteln vereinigen können,
und viele legen sich die größten Opfer zu Hause auf, um das Ammeugeld
zu erschwingen, denn ein Kind zu Hause aufzuziehen gilt gleichbedeutend mit
dem Verdachte, ein armer Schlucker zu sein. Kommt dann das Kind nach einem
oder anderthalb Jahren in die Familie zurück, so fehlt ihm schon die instinktive
Zuneigung zu den Eltern, jn es hat häufig genug mit der Ammenmilch einen
der Familie entgegengesetzten Charakter eingesogen, sodaß nnn seine Erziehung
auf Schwierigkeiten stößt. Aber wenn sich auch diese Schwierigkeiten gar
nicht geltend machen sollten, so schreitet doch die Erziehung falsch weiter. Denn
die Italiener im großen und ganzen wollen sich schlechterdings nicht davon
überzeugen, daß Erziehung gleichbedeutend ist mit Entäußerung des Egoismus.
Giebt es einen krasser" Egoisten, als ein kleines Kind? Alles muß sich wohl
oder übel nach seine" Bedürfnissen richten, die ganze Familie wird von ihm
tyrannisirt, freilich ohne daß das Kind selber ein Bewußtsein davon Hütte.
Wenn es größer wird, so soll es allmählich lernen, seine eignen Interessen
mit denen der Elter" und Geschwister in Einklang zu bringen. Der fremde
Interessenkreis wird von der Schule angefangen, mehr und mehr erweitert, bis
schließlich der Mensch in die große Gesellschaft tritt. Dann wird der, der
seinen Egoismus in weisen Grenzen zu halten, seine berechtigten persönlichen
Interessen in Einklang mit denen seiner Nebenmenschen zu bringen gelernt hat,
nicht nur von allen andern als der wohlerzogenste anerkannt werden, sondern
er wird sich auch selber viel glücklicher fühlen, weil er nicht bei jedem Schritte,
den er macht, mit andern zusammenstößt. Aber davon will das gegenwärtige
Geschlecht in Italien nichts hören. Während vor dreißig Jahren noch die Junge"
als Jungen behandelt wurden, werden sie jetzt als Männer behandelt, ob¬
gleich sie noch die Launen von Jungen im Kopfe haben. Man läßt ihnen
schlechthin ihren Willen; sie können thun und lassen, was ihnen beliebt. Sie
sind nicht bloß die Herren, sondern geradezu die Tyrannen des Hauses, alles


Die Studentennnruhen in Italien

ernstlicher Erziehung schon vom Elternhause her. Die Minister können daher
die besten Gesetze ersinnen, die akademischen Senate und die einzelnen Pro¬
fessoren können so streng sein, wie sie wollen, der Zweck wird nie erreicht
werden, denn die, mit denen sie es thun haben, sind schon viel zu sehr an
eine verfehlte Erziehungsmethode gewöhnt, als daß sie sich jetzt in einem
Alter, wo sie vollends selber zu denken und sich zu fühlen anfangen, ohne weiteres
unter eine Autorität, und wäre es die des ganzen Landes, beugen sollten.

So bitter es ist, so muß es doch offen gesagt werden: die ganze Er¬
ziehung in Italien ist auf falschen Bahnen, denn es fehlt ihr der Grundsatz
der Autorität. Die italienische Jugend kennt weder Respekt vor den Eltern,
noch vor der Wissenschaft, noch vor der Arbeit, noch vor sonst etwas, denn
sie wird von klein an nicht daran gewöhnt. Kaum sind die Kinder geboren,
so werden sie zu eiuer Amme aufs Land hinaufgebracht; dieser Sitte huldige»
alle Familien, die es nur einigermaßen mit ihren Mitteln vereinigen können,
und viele legen sich die größten Opfer zu Hause auf, um das Ammeugeld
zu erschwingen, denn ein Kind zu Hause aufzuziehen gilt gleichbedeutend mit
dem Verdachte, ein armer Schlucker zu sein. Kommt dann das Kind nach einem
oder anderthalb Jahren in die Familie zurück, so fehlt ihm schon die instinktive
Zuneigung zu den Eltern, jn es hat häufig genug mit der Ammenmilch einen
der Familie entgegengesetzten Charakter eingesogen, sodaß nnn seine Erziehung
auf Schwierigkeiten stößt. Aber wenn sich auch diese Schwierigkeiten gar
nicht geltend machen sollten, so schreitet doch die Erziehung falsch weiter. Denn
die Italiener im großen und ganzen wollen sich schlechterdings nicht davon
überzeugen, daß Erziehung gleichbedeutend ist mit Entäußerung des Egoismus.
Giebt es einen krasser» Egoisten, als ein kleines Kind? Alles muß sich wohl
oder übel nach seine» Bedürfnissen richten, die ganze Familie wird von ihm
tyrannisirt, freilich ohne daß das Kind selber ein Bewußtsein davon Hütte.
Wenn es größer wird, so soll es allmählich lernen, seine eignen Interessen
mit denen der Elter» und Geschwister in Einklang zu bringen. Der fremde
Interessenkreis wird von der Schule angefangen, mehr und mehr erweitert, bis
schließlich der Mensch in die große Gesellschaft tritt. Dann wird der, der
seinen Egoismus in weisen Grenzen zu halten, seine berechtigten persönlichen
Interessen in Einklang mit denen seiner Nebenmenschen zu bringen gelernt hat,
nicht nur von allen andern als der wohlerzogenste anerkannt werden, sondern
er wird sich auch selber viel glücklicher fühlen, weil er nicht bei jedem Schritte,
den er macht, mit andern zusammenstößt. Aber davon will das gegenwärtige
Geschlecht in Italien nichts hören. Während vor dreißig Jahren noch die Junge»
als Jungen behandelt wurden, werden sie jetzt als Männer behandelt, ob¬
gleich sie noch die Launen von Jungen im Kopfe haben. Man läßt ihnen
schlechthin ihren Willen; sie können thun und lassen, was ihnen beliebt. Sie
sind nicht bloß die Herren, sondern geradezu die Tyrannen des Hauses, alles


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[0632] Die Studentennnruhen in Italien ernstlicher Erziehung schon vom Elternhause her. Die Minister können daher die besten Gesetze ersinnen, die akademischen Senate und die einzelnen Pro¬ fessoren können so streng sein, wie sie wollen, der Zweck wird nie erreicht werden, denn die, mit denen sie es thun haben, sind schon viel zu sehr an eine verfehlte Erziehungsmethode gewöhnt, als daß sie sich jetzt in einem Alter, wo sie vollends selber zu denken und sich zu fühlen anfangen, ohne weiteres unter eine Autorität, und wäre es die des ganzen Landes, beugen sollten. So bitter es ist, so muß es doch offen gesagt werden: die ganze Er¬ ziehung in Italien ist auf falschen Bahnen, denn es fehlt ihr der Grundsatz der Autorität. Die italienische Jugend kennt weder Respekt vor den Eltern, noch vor der Wissenschaft, noch vor der Arbeit, noch vor sonst etwas, denn sie wird von klein an nicht daran gewöhnt. Kaum sind die Kinder geboren, so werden sie zu eiuer Amme aufs Land hinaufgebracht; dieser Sitte huldige» alle Familien, die es nur einigermaßen mit ihren Mitteln vereinigen können, und viele legen sich die größten Opfer zu Hause auf, um das Ammeugeld zu erschwingen, denn ein Kind zu Hause aufzuziehen gilt gleichbedeutend mit dem Verdachte, ein armer Schlucker zu sein. Kommt dann das Kind nach einem oder anderthalb Jahren in die Familie zurück, so fehlt ihm schon die instinktive Zuneigung zu den Eltern, jn es hat häufig genug mit der Ammenmilch einen der Familie entgegengesetzten Charakter eingesogen, sodaß nnn seine Erziehung auf Schwierigkeiten stößt. Aber wenn sich auch diese Schwierigkeiten gar nicht geltend machen sollten, so schreitet doch die Erziehung falsch weiter. Denn die Italiener im großen und ganzen wollen sich schlechterdings nicht davon überzeugen, daß Erziehung gleichbedeutend ist mit Entäußerung des Egoismus. Giebt es einen krasser» Egoisten, als ein kleines Kind? Alles muß sich wohl oder übel nach seine» Bedürfnissen richten, die ganze Familie wird von ihm tyrannisirt, freilich ohne daß das Kind selber ein Bewußtsein davon Hütte. Wenn es größer wird, so soll es allmählich lernen, seine eignen Interessen mit denen der Elter» und Geschwister in Einklang zu bringen. Der fremde Interessenkreis wird von der Schule angefangen, mehr und mehr erweitert, bis schließlich der Mensch in die große Gesellschaft tritt. Dann wird der, der seinen Egoismus in weisen Grenzen zu halten, seine berechtigten persönlichen Interessen in Einklang mit denen seiner Nebenmenschen zu bringen gelernt hat, nicht nur von allen andern als der wohlerzogenste anerkannt werden, sondern er wird sich auch selber viel glücklicher fühlen, weil er nicht bei jedem Schritte, den er macht, mit andern zusammenstößt. Aber davon will das gegenwärtige Geschlecht in Italien nichts hören. Während vor dreißig Jahren noch die Junge» als Jungen behandelt wurden, werden sie jetzt als Männer behandelt, ob¬ gleich sie noch die Launen von Jungen im Kopfe haben. Man läßt ihnen schlechthin ihren Willen; sie können thun und lassen, was ihnen beliebt. Sie sind nicht bloß die Herren, sondern geradezu die Tyrannen des Hauses, alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/632>, abgerufen am 23.07.2024.