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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Studentenunruhen in Italien

ihres Ehrgefühls an! Beim Beginn des neuen Schuljahres richtete er also
ein Rundschreiben an die Studentenschaft. Hört mich einmal an, schrieb er,
meine lieben Söhne! Ihr müßt studiren, weil es eure Familien von euch
verlangen, und weil das Vaterland tüchtiger, weiser Männer bedarf; ihr müßt
aber auch Zucht halten, denn das seid ihr den Eurigen und dem Baterlande
für die Opfer schuldig, die diese für euch bringen, und -- um euers guten
Namens willen. Ich, der ich immer unter der Jngend gelebt habe und weiß,
wie man sie anfassen muß, ich setze mein volles Vertrauen auf euern guten
Willen, und zum Beweis dafür vertraue ich die Wahrung der Ordnung euch
selber an.

Der Weg war entschieden nen und edel. Aber wie haben die Herren
Studenten das auf sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt? Sie verlangten eines
schönen Tages, daß die Frequenzkontrolle abgeschafft, die außerordentlichen
Nachprüfungen öfter wiederholt, die Vorlesungen der Professoren gedruckt und
ihnen käuflich gemacht würden; ja sie gingen teilweise so weit, zu fordern,
daß der oder jener Professor aus einer Prüfungskommission ausscheide, seine
Vortragsmcthode andre u. dergl., und als diese Forderungen natürlich auf
Hindernisse stießen, da pfiffen die Studenten ihre Professoren aus, warfen
ihnen die Fenster ein, verlangten die Absetzung der ihnen mißliebigen Rektoren,
verbrannten Katheder von Professoren und Erlasse des Ministers, veranlaßte",
um sich ungezwungner den Karnevalsfreudeu hingeben zu können, den Schluß
vieler Kurse und erklärten schließlich den allgemeinen Aufstand.

Man kann nun über die größere oder geringere Berechtigung dieser ver-
schiednen Forderungen verschiedner Ansicht sein. Ich sür meinen Teil halte
es nicht für nötig, auf deren Inhalt näher einzugehen, weil er einen spezifisch
italienischen Lokalcharakter hat. Aber eine Betrachtung der Form, wie diese
Forderungen gestellt wurden, und des fernern Benehmens der italienischen
Studentenschaft hat gewiß auch außerhalb der italienischen Landesgrenzen ihre
Berechtigung und ihr Interesse. Denn der allgemeine Eindruck, den das Ans¬
tand von der ganzen Sache durch das Lesen der Zeitungsberichte bekommen
hat, war gewiß der, daß auf den italienischen Universitäten jede Disziplin
fehle. Und von diesem Eindruck ist nur ein kurzer Schritt zu der Vermutung,
daß es in xunoto cliseivlingc! bei der gebildeten Klasse der Italiener im all¬
gemeinen nicht viel besser bestellt sein werde.

Wie kommt es denn, wird mancher gefragt haben, daß in Italien auf
den Universitäten solche Unordnungen entstehen? Sind denn keine Gesetze da,
wie in andern zivilisirten Ländern? Die Antwort ist sehr einfach. Gesetze sind
da, und zwar Gesetze, die auf den ersten Anblick geradezu bestechen und einen
mit Bewundrung erfüllen für den, der, offenbar von unendlicher Liebe für
die Jugend beseelt lind für das Ideal der Menschenwürde und Freiheit schwär¬
mend, sie ausgedacht und zu Papier gebracht hat- Aber bei näheriu Zusehen


Die Studentenunruhen in Italien

ihres Ehrgefühls an! Beim Beginn des neuen Schuljahres richtete er also
ein Rundschreiben an die Studentenschaft. Hört mich einmal an, schrieb er,
meine lieben Söhne! Ihr müßt studiren, weil es eure Familien von euch
verlangen, und weil das Vaterland tüchtiger, weiser Männer bedarf; ihr müßt
aber auch Zucht halten, denn das seid ihr den Eurigen und dem Baterlande
für die Opfer schuldig, die diese für euch bringen, und — um euers guten
Namens willen. Ich, der ich immer unter der Jngend gelebt habe und weiß,
wie man sie anfassen muß, ich setze mein volles Vertrauen auf euern guten
Willen, und zum Beweis dafür vertraue ich die Wahrung der Ordnung euch
selber an.

Der Weg war entschieden nen und edel. Aber wie haben die Herren
Studenten das auf sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt? Sie verlangten eines
schönen Tages, daß die Frequenzkontrolle abgeschafft, die außerordentlichen
Nachprüfungen öfter wiederholt, die Vorlesungen der Professoren gedruckt und
ihnen käuflich gemacht würden; ja sie gingen teilweise so weit, zu fordern,
daß der oder jener Professor aus einer Prüfungskommission ausscheide, seine
Vortragsmcthode andre u. dergl., und als diese Forderungen natürlich auf
Hindernisse stießen, da pfiffen die Studenten ihre Professoren aus, warfen
ihnen die Fenster ein, verlangten die Absetzung der ihnen mißliebigen Rektoren,
verbrannten Katheder von Professoren und Erlasse des Ministers, veranlaßte»,
um sich ungezwungner den Karnevalsfreudeu hingeben zu können, den Schluß
vieler Kurse und erklärten schließlich den allgemeinen Aufstand.

Man kann nun über die größere oder geringere Berechtigung dieser ver-
schiednen Forderungen verschiedner Ansicht sein. Ich sür meinen Teil halte
es nicht für nötig, auf deren Inhalt näher einzugehen, weil er einen spezifisch
italienischen Lokalcharakter hat. Aber eine Betrachtung der Form, wie diese
Forderungen gestellt wurden, und des fernern Benehmens der italienischen
Studentenschaft hat gewiß auch außerhalb der italienischen Landesgrenzen ihre
Berechtigung und ihr Interesse. Denn der allgemeine Eindruck, den das Ans¬
tand von der ganzen Sache durch das Lesen der Zeitungsberichte bekommen
hat, war gewiß der, daß auf den italienischen Universitäten jede Disziplin
fehle. Und von diesem Eindruck ist nur ein kurzer Schritt zu der Vermutung,
daß es in xunoto cliseivlingc! bei der gebildeten Klasse der Italiener im all¬
gemeinen nicht viel besser bestellt sein werde.

Wie kommt es denn, wird mancher gefragt haben, daß in Italien auf
den Universitäten solche Unordnungen entstehen? Sind denn keine Gesetze da,
wie in andern zivilisirten Ländern? Die Antwort ist sehr einfach. Gesetze sind
da, und zwar Gesetze, die auf den ersten Anblick geradezu bestechen und einen
mit Bewundrung erfüllen für den, der, offenbar von unendlicher Liebe für
die Jugend beseelt lind für das Ideal der Menschenwürde und Freiheit schwär¬
mend, sie ausgedacht und zu Papier gebracht hat- Aber bei näheriu Zusehen


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[0630] Die Studentenunruhen in Italien ihres Ehrgefühls an! Beim Beginn des neuen Schuljahres richtete er also ein Rundschreiben an die Studentenschaft. Hört mich einmal an, schrieb er, meine lieben Söhne! Ihr müßt studiren, weil es eure Familien von euch verlangen, und weil das Vaterland tüchtiger, weiser Männer bedarf; ihr müßt aber auch Zucht halten, denn das seid ihr den Eurigen und dem Baterlande für die Opfer schuldig, die diese für euch bringen, und — um euers guten Namens willen. Ich, der ich immer unter der Jngend gelebt habe und weiß, wie man sie anfassen muß, ich setze mein volles Vertrauen auf euern guten Willen, und zum Beweis dafür vertraue ich die Wahrung der Ordnung euch selber an. Der Weg war entschieden nen und edel. Aber wie haben die Herren Studenten das auf sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt? Sie verlangten eines schönen Tages, daß die Frequenzkontrolle abgeschafft, die außerordentlichen Nachprüfungen öfter wiederholt, die Vorlesungen der Professoren gedruckt und ihnen käuflich gemacht würden; ja sie gingen teilweise so weit, zu fordern, daß der oder jener Professor aus einer Prüfungskommission ausscheide, seine Vortragsmcthode andre u. dergl., und als diese Forderungen natürlich auf Hindernisse stießen, da pfiffen die Studenten ihre Professoren aus, warfen ihnen die Fenster ein, verlangten die Absetzung der ihnen mißliebigen Rektoren, verbrannten Katheder von Professoren und Erlasse des Ministers, veranlaßte», um sich ungezwungner den Karnevalsfreudeu hingeben zu können, den Schluß vieler Kurse und erklärten schließlich den allgemeinen Aufstand. Man kann nun über die größere oder geringere Berechtigung dieser ver- schiednen Forderungen verschiedner Ansicht sein. Ich sür meinen Teil halte es nicht für nötig, auf deren Inhalt näher einzugehen, weil er einen spezifisch italienischen Lokalcharakter hat. Aber eine Betrachtung der Form, wie diese Forderungen gestellt wurden, und des fernern Benehmens der italienischen Studentenschaft hat gewiß auch außerhalb der italienischen Landesgrenzen ihre Berechtigung und ihr Interesse. Denn der allgemeine Eindruck, den das Ans¬ tand von der ganzen Sache durch das Lesen der Zeitungsberichte bekommen hat, war gewiß der, daß auf den italienischen Universitäten jede Disziplin fehle. Und von diesem Eindruck ist nur ein kurzer Schritt zu der Vermutung, daß es in xunoto cliseivlingc! bei der gebildeten Klasse der Italiener im all¬ gemeinen nicht viel besser bestellt sein werde. Wie kommt es denn, wird mancher gefragt haben, daß in Italien auf den Universitäten solche Unordnungen entstehen? Sind denn keine Gesetze da, wie in andern zivilisirten Ländern? Die Antwort ist sehr einfach. Gesetze sind da, und zwar Gesetze, die auf den ersten Anblick geradezu bestechen und einen mit Bewundrung erfüllen für den, der, offenbar von unendlicher Liebe für die Jugend beseelt lind für das Ideal der Menschenwürde und Freiheit schwär¬ mend, sie ausgedacht und zu Papier gebracht hat- Aber bei näheriu Zusehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/630>, abgerufen am 23.07.2024.