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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Studentenunrnhen in Italien

je eher je lieber Gesetzeskraft. Die übrigen Bestimmungen sind nicht so
dringlich, daß sie nicht bis zur allgemeinen Revision des Strafgesetzbuchs und
der Strafprozeßordnung -- gerade herausgesagt: bis zur Errichtung der
mittlern und großen Schöffengerichte und der Einführung der Berufung
hinausgeschoben werden könnten. Dagegen wäre tief zu beklagen, wenn der
Staat wieder ein neues großes Gebiet der Sittlichkeit verschlingen, damit zwar
einen gewissen Grad äußerer Sittengerechtigkeit erzwingen, wahrer freier Sitt¬
lichkeit aber schweren Abbruch thun würde. Geht es so weiter, so werden
wir zwar Gesetze in Hülle und Fülle, aber IvM" Ano rnorikns haben.




Die Studentenunruhen in Italien

eit einer Reihe von Jahren vergeht fast kein Winter, ohne daß
auf irgend einer oder auf mehreren italienischen Universitäten
ein Krawall ausbräche. Dieser offenbar chronischen Krankheit
gegenüber verhielt sich das Land und auch die Regierung nicht
gleichgiltig. Im Gegenteil, die öffentliche Meinung, soweit sie
sich in der Presse und in den Worten der Landtagsabgeordneten kundgab, er¬
kannte immer die Notwendigkeit an, der Krankheit ernstlich zu Leibe zu gehen.
Die verschiednen Unterrichtsminister machten die Meinung des Landes zu der
ihrigen, versprachen unerbittliche Strenge, aber schließlich blieb doch alles beim
alten. Wohl wurde in einzelnen Fällen hie und da ein Weisheitstempel für
einige Tage geschlossen; dann hieß es aber, der Jugend müsse man viel nach¬
sehen, und man dürfe doch die armen Väter nicht die Sünden der Söhne
büßen lassen, also werfe man einen Schleier über das Vergangne und hoffe
auf eine bessere Zukunft. Man habe ja den Jungen gezeigt, daß man streng
sein könne, nun zeige man ihnen, daß man wahrhaft liberal sei. Im stillen
dachten die Herren freilich noch dabei, daß sie bei diesem Verfahren am wenigsten
Scherereien auszustehen, am wenigsten Rekurse und Begnadigungsschriften zu
lesen Hütten. Bequem war. das Verfahren gewiß, lind außerdem bot es
noch den nicht hoch genug anzuschlagenden Borten, die, die es anwandten, vor
dem Verdacht zu bewahren, als ob sie der Freiheit, diesem nirgends so sehr
wie in Italien mißbrauchten und mißverstandnen Gute, zu nahe treten wollten.

Da nun aber mit diesem Verfahren die Unordnung auf den Universitäten
nicht nur nicht abgeschafft, sondern immer mehr genährt wurde, so gedachte
der alte Pädagoge Villari, als er Unterrichtsminister geworden war, einen
andern Weg einzuschlagen. Lasten wir einmal die ewigen Drohungen beiseite,
sagte er, und fassen wir die jungen Herren an dem Zipfel ihrer Würde und


Die Studentenunrnhen in Italien

je eher je lieber Gesetzeskraft. Die übrigen Bestimmungen sind nicht so
dringlich, daß sie nicht bis zur allgemeinen Revision des Strafgesetzbuchs und
der Strafprozeßordnung — gerade herausgesagt: bis zur Errichtung der
mittlern und großen Schöffengerichte und der Einführung der Berufung
hinausgeschoben werden könnten. Dagegen wäre tief zu beklagen, wenn der
Staat wieder ein neues großes Gebiet der Sittlichkeit verschlingen, damit zwar
einen gewissen Grad äußerer Sittengerechtigkeit erzwingen, wahrer freier Sitt¬
lichkeit aber schweren Abbruch thun würde. Geht es so weiter, so werden
wir zwar Gesetze in Hülle und Fülle, aber IvM« Ano rnorikns haben.




Die Studentenunruhen in Italien

eit einer Reihe von Jahren vergeht fast kein Winter, ohne daß
auf irgend einer oder auf mehreren italienischen Universitäten
ein Krawall ausbräche. Dieser offenbar chronischen Krankheit
gegenüber verhielt sich das Land und auch die Regierung nicht
gleichgiltig. Im Gegenteil, die öffentliche Meinung, soweit sie
sich in der Presse und in den Worten der Landtagsabgeordneten kundgab, er¬
kannte immer die Notwendigkeit an, der Krankheit ernstlich zu Leibe zu gehen.
Die verschiednen Unterrichtsminister machten die Meinung des Landes zu der
ihrigen, versprachen unerbittliche Strenge, aber schließlich blieb doch alles beim
alten. Wohl wurde in einzelnen Fällen hie und da ein Weisheitstempel für
einige Tage geschlossen; dann hieß es aber, der Jugend müsse man viel nach¬
sehen, und man dürfe doch die armen Väter nicht die Sünden der Söhne
büßen lassen, also werfe man einen Schleier über das Vergangne und hoffe
auf eine bessere Zukunft. Man habe ja den Jungen gezeigt, daß man streng
sein könne, nun zeige man ihnen, daß man wahrhaft liberal sei. Im stillen
dachten die Herren freilich noch dabei, daß sie bei diesem Verfahren am wenigsten
Scherereien auszustehen, am wenigsten Rekurse und Begnadigungsschriften zu
lesen Hütten. Bequem war. das Verfahren gewiß, lind außerdem bot es
noch den nicht hoch genug anzuschlagenden Borten, die, die es anwandten, vor
dem Verdacht zu bewahren, als ob sie der Freiheit, diesem nirgends so sehr
wie in Italien mißbrauchten und mißverstandnen Gute, zu nahe treten wollten.

Da nun aber mit diesem Verfahren die Unordnung auf den Universitäten
nicht nur nicht abgeschafft, sondern immer mehr genährt wurde, so gedachte
der alte Pädagoge Villari, als er Unterrichtsminister geworden war, einen
andern Weg einzuschlagen. Lasten wir einmal die ewigen Drohungen beiseite,
sagte er, und fassen wir die jungen Herren an dem Zipfel ihrer Würde und


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[0629] Die Studentenunrnhen in Italien je eher je lieber Gesetzeskraft. Die übrigen Bestimmungen sind nicht so dringlich, daß sie nicht bis zur allgemeinen Revision des Strafgesetzbuchs und der Strafprozeßordnung — gerade herausgesagt: bis zur Errichtung der mittlern und großen Schöffengerichte und der Einführung der Berufung hinausgeschoben werden könnten. Dagegen wäre tief zu beklagen, wenn der Staat wieder ein neues großes Gebiet der Sittlichkeit verschlingen, damit zwar einen gewissen Grad äußerer Sittengerechtigkeit erzwingen, wahrer freier Sitt¬ lichkeit aber schweren Abbruch thun würde. Geht es so weiter, so werden wir zwar Gesetze in Hülle und Fülle, aber IvM« Ano rnorikns haben. Die Studentenunruhen in Italien eit einer Reihe von Jahren vergeht fast kein Winter, ohne daß auf irgend einer oder auf mehreren italienischen Universitäten ein Krawall ausbräche. Dieser offenbar chronischen Krankheit gegenüber verhielt sich das Land und auch die Regierung nicht gleichgiltig. Im Gegenteil, die öffentliche Meinung, soweit sie sich in der Presse und in den Worten der Landtagsabgeordneten kundgab, er¬ kannte immer die Notwendigkeit an, der Krankheit ernstlich zu Leibe zu gehen. Die verschiednen Unterrichtsminister machten die Meinung des Landes zu der ihrigen, versprachen unerbittliche Strenge, aber schließlich blieb doch alles beim alten. Wohl wurde in einzelnen Fällen hie und da ein Weisheitstempel für einige Tage geschlossen; dann hieß es aber, der Jugend müsse man viel nach¬ sehen, und man dürfe doch die armen Väter nicht die Sünden der Söhne büßen lassen, also werfe man einen Schleier über das Vergangne und hoffe auf eine bessere Zukunft. Man habe ja den Jungen gezeigt, daß man streng sein könne, nun zeige man ihnen, daß man wahrhaft liberal sei. Im stillen dachten die Herren freilich noch dabei, daß sie bei diesem Verfahren am wenigsten Scherereien auszustehen, am wenigsten Rekurse und Begnadigungsschriften zu lesen Hütten. Bequem war. das Verfahren gewiß, lind außerdem bot es noch den nicht hoch genug anzuschlagenden Borten, die, die es anwandten, vor dem Verdacht zu bewahren, als ob sie der Freiheit, diesem nirgends so sehr wie in Italien mißbrauchten und mißverstandnen Gute, zu nahe treten wollten. Da nun aber mit diesem Verfahren die Unordnung auf den Universitäten nicht nur nicht abgeschafft, sondern immer mehr genährt wurde, so gedachte der alte Pädagoge Villari, als er Unterrichtsminister geworden war, einen andern Weg einzuschlagen. Lasten wir einmal die ewigen Drohungen beiseite, sagte er, und fassen wir die jungen Herren an dem Zipfel ihrer Würde und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/629>, abgerufen am 23.07.2024.