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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Sittlichkeit-gesetz

nur ein Dutzend angesehener und zahlungskräftiger Familien sich zu diese"?
sanften Druck auf die Geschäftsgrundsätze ihrer Lieferanten vereinigen, das
sollte nicht helfen? Ich schelle mich auch nicht, einen halbschürigen Bengel,
der mit offnem Munde die wunderbaren Wirkungen der or, Aschen Haar¬
tinktur an den üppigen Formen einer Modedame bei der Morgentoilette be¬
wundert, mit einem freundlichen Rippenstoß auf die Seite zu schieben oder
der entrüsteten "gnädigen" Frau beim litterarischen Thee mein Bedanern aus-
zusprechen, daß sie gezwungen gewesen sei, ihre Blicke auf dem anstößigen
Bilde ruhen zu lassen. Und haben wir nicht ein gewaltiges Rüstzeug,
von dem unsre naiven Altvordern, die noch pronnsouv in den Flüssen ba¬
deten, sich nichts träumen ließen, haben wir nicht die Presse, die sechste
Großmacht? Ja so! ich vergaß, daß sie ihren Inseratenteil heute leider meist
verpachtet hat und zu ihrem Bedanern nnr noch in der Lage ist, in Leitartikeln,
die von Sittlichkeit triefen, über den Niedergang guter deutscher Sitte zu
jammern. Gottlob giebt es aber doch auch eine Presse, die diesen Kampf,
selbst intöN'g, vitas, noch mit Ernst führt. Sie brauchte nur von der Gefahr,
ihre ehrliche Entrüstung mit Beleidigungsprozessen büßen zu müssen, befreit
zu werden, um noch viel segensreicher, namentlich mit der scharfen Waffe des
Spottes wirken zu können. Am rücksichtslosesten zieht, man muß es mit
einiger Beschämung gestehen, die sozialdemokratische Presse zu Felde, wenn
auch nur in der Absicht, der über die Unsittlichkeit der nicht besitzenden Klassen
jammernden "guten" Presse eins am Zeuge zu flicken. Sache der Presse ist
es auch, Ankündigungen in Druckschriften, durch die jemand unzüchtige Ver¬
bindungen einzuleiten sucht, ein neues, von dem Entwurf ^geschaffenes Ver¬
gehen, das aber nicht an der Presse, sondern nur am Einsender geahndet
werden soll, zu verhindern. Hat die betreffende Druckschrift nicht selbst
so viel Ehre in ihren Spalten, so mag man doch erst einmal den Teufel
durch Beelzebub, durch eine andre, anständigere Druckschrift auszutreiben
versuchen.

Erst wenn der Kampf der Sitte gegen die Unsitte, der noch gar nicht,
wenigstens noch nicht auf der ganzen Linie begonnen hat, mit der Niederlage
der Sitte geendet haben sollte, wäre man berechtigt, nach der Staatshilfe zu
rufen. Und erst wenn die vorbeugende Hilfe, die polizeiliche, durch Straf¬
androhungen erzwungne Entfernung unanständiger Bilder unter Kontrolle
des Verwaltungsstreitverfahreus versagte, wäre es an der Zeit, die strafende
Hilfe des Richters in Allspruch zu nehme". Dann würde von den unglück¬
lichen Kunsthändlern und Geschäftsleute" wenigstens das Damoklesschwert
einer Rechtsprechung genommen, die z. B. in der Auslegung des nahe ver¬
wandten Unfugsparagraphen bereits merkwürdige Blüte" getrieben hat. Wenn
aber die Sitte ihr Wächteramt an die Polizei lind Staatsanwaltschaft abge¬
treten habe" wird, dann wird die traurige Folge sein, daß alle die schönen


Das Sittlichkeit-gesetz

nur ein Dutzend angesehener und zahlungskräftiger Familien sich zu diese»?
sanften Druck auf die Geschäftsgrundsätze ihrer Lieferanten vereinigen, das
sollte nicht helfen? Ich schelle mich auch nicht, einen halbschürigen Bengel,
der mit offnem Munde die wunderbaren Wirkungen der or, Aschen Haar¬
tinktur an den üppigen Formen einer Modedame bei der Morgentoilette be¬
wundert, mit einem freundlichen Rippenstoß auf die Seite zu schieben oder
der entrüsteten „gnädigen" Frau beim litterarischen Thee mein Bedanern aus-
zusprechen, daß sie gezwungen gewesen sei, ihre Blicke auf dem anstößigen
Bilde ruhen zu lassen. Und haben wir nicht ein gewaltiges Rüstzeug,
von dem unsre naiven Altvordern, die noch pronnsouv in den Flüssen ba¬
deten, sich nichts träumen ließen, haben wir nicht die Presse, die sechste
Großmacht? Ja so! ich vergaß, daß sie ihren Inseratenteil heute leider meist
verpachtet hat und zu ihrem Bedanern nnr noch in der Lage ist, in Leitartikeln,
die von Sittlichkeit triefen, über den Niedergang guter deutscher Sitte zu
jammern. Gottlob giebt es aber doch auch eine Presse, die diesen Kampf,
selbst intöN'g, vitas, noch mit Ernst führt. Sie brauchte nur von der Gefahr,
ihre ehrliche Entrüstung mit Beleidigungsprozessen büßen zu müssen, befreit
zu werden, um noch viel segensreicher, namentlich mit der scharfen Waffe des
Spottes wirken zu können. Am rücksichtslosesten zieht, man muß es mit
einiger Beschämung gestehen, die sozialdemokratische Presse zu Felde, wenn
auch nur in der Absicht, der über die Unsittlichkeit der nicht besitzenden Klassen
jammernden „guten" Presse eins am Zeuge zu flicken. Sache der Presse ist
es auch, Ankündigungen in Druckschriften, durch die jemand unzüchtige Ver¬
bindungen einzuleiten sucht, ein neues, von dem Entwurf ^geschaffenes Ver¬
gehen, das aber nicht an der Presse, sondern nur am Einsender geahndet
werden soll, zu verhindern. Hat die betreffende Druckschrift nicht selbst
so viel Ehre in ihren Spalten, so mag man doch erst einmal den Teufel
durch Beelzebub, durch eine andre, anständigere Druckschrift auszutreiben
versuchen.

Erst wenn der Kampf der Sitte gegen die Unsitte, der noch gar nicht,
wenigstens noch nicht auf der ganzen Linie begonnen hat, mit der Niederlage
der Sitte geendet haben sollte, wäre man berechtigt, nach der Staatshilfe zu
rufen. Und erst wenn die vorbeugende Hilfe, die polizeiliche, durch Straf¬
androhungen erzwungne Entfernung unanständiger Bilder unter Kontrolle
des Verwaltungsstreitverfahreus versagte, wäre es an der Zeit, die strafende
Hilfe des Richters in Allspruch zu nehme». Dann würde von den unglück¬
lichen Kunsthändlern und Geschäftsleute» wenigstens das Damoklesschwert
einer Rechtsprechung genommen, die z. B. in der Auslegung des nahe ver¬
wandten Unfugsparagraphen bereits merkwürdige Blüte» getrieben hat. Wenn
aber die Sitte ihr Wächteramt an die Polizei lind Staatsanwaltschaft abge¬
treten habe» wird, dann wird die traurige Folge sein, daß alle die schönen


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[0627] Das Sittlichkeit-gesetz nur ein Dutzend angesehener und zahlungskräftiger Familien sich zu diese»? sanften Druck auf die Geschäftsgrundsätze ihrer Lieferanten vereinigen, das sollte nicht helfen? Ich schelle mich auch nicht, einen halbschürigen Bengel, der mit offnem Munde die wunderbaren Wirkungen der or, Aschen Haar¬ tinktur an den üppigen Formen einer Modedame bei der Morgentoilette be¬ wundert, mit einem freundlichen Rippenstoß auf die Seite zu schieben oder der entrüsteten „gnädigen" Frau beim litterarischen Thee mein Bedanern aus- zusprechen, daß sie gezwungen gewesen sei, ihre Blicke auf dem anstößigen Bilde ruhen zu lassen. Und haben wir nicht ein gewaltiges Rüstzeug, von dem unsre naiven Altvordern, die noch pronnsouv in den Flüssen ba¬ deten, sich nichts träumen ließen, haben wir nicht die Presse, die sechste Großmacht? Ja so! ich vergaß, daß sie ihren Inseratenteil heute leider meist verpachtet hat und zu ihrem Bedanern nnr noch in der Lage ist, in Leitartikeln, die von Sittlichkeit triefen, über den Niedergang guter deutscher Sitte zu jammern. Gottlob giebt es aber doch auch eine Presse, die diesen Kampf, selbst intöN'g, vitas, noch mit Ernst führt. Sie brauchte nur von der Gefahr, ihre ehrliche Entrüstung mit Beleidigungsprozessen büßen zu müssen, befreit zu werden, um noch viel segensreicher, namentlich mit der scharfen Waffe des Spottes wirken zu können. Am rücksichtslosesten zieht, man muß es mit einiger Beschämung gestehen, die sozialdemokratische Presse zu Felde, wenn auch nur in der Absicht, der über die Unsittlichkeit der nicht besitzenden Klassen jammernden „guten" Presse eins am Zeuge zu flicken. Sache der Presse ist es auch, Ankündigungen in Druckschriften, durch die jemand unzüchtige Ver¬ bindungen einzuleiten sucht, ein neues, von dem Entwurf ^geschaffenes Ver¬ gehen, das aber nicht an der Presse, sondern nur am Einsender geahndet werden soll, zu verhindern. Hat die betreffende Druckschrift nicht selbst so viel Ehre in ihren Spalten, so mag man doch erst einmal den Teufel durch Beelzebub, durch eine andre, anständigere Druckschrift auszutreiben versuchen. Erst wenn der Kampf der Sitte gegen die Unsitte, der noch gar nicht, wenigstens noch nicht auf der ganzen Linie begonnen hat, mit der Niederlage der Sitte geendet haben sollte, wäre man berechtigt, nach der Staatshilfe zu rufen. Und erst wenn die vorbeugende Hilfe, die polizeiliche, durch Straf¬ androhungen erzwungne Entfernung unanständiger Bilder unter Kontrolle des Verwaltungsstreitverfahreus versagte, wäre es an der Zeit, die strafende Hilfe des Richters in Allspruch zu nehme». Dann würde von den unglück¬ lichen Kunsthändlern und Geschäftsleute» wenigstens das Damoklesschwert einer Rechtsprechung genommen, die z. B. in der Auslegung des nahe ver¬ wandten Unfugsparagraphen bereits merkwürdige Blüte» getrieben hat. Wenn aber die Sitte ihr Wächteramt an die Polizei lind Staatsanwaltschaft abge¬ treten habe» wird, dann wird die traurige Folge sein, daß alle die schönen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/627>, abgerufen am 23.07.2024.