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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Laß nicht vom Linken dich umgarnen I

dem Kaiser Absichten unterzuschieben, die er mehr als einmal weit von sich
gewiesen hat, und im Ernste zu glauben, daß er Neigung zu einer Abänderung
der Verfassung habe, während er wiederholt ausdrücklich betont hat, das; er
in ihr eine durchaus richtige Machtverteilnng zwischen den verschiednen Ge¬
walten sehe.

Und ebensowenig wie mit dem Kaiser, vermag man sich mit den neuen
Pnrteibestrebungen gerecht abzufinden, die die neue Zeit geboren hat, mit der
sozialdemokratischen und der deutsch-sozialen Bewegung. Woher sie kommen,
das vermag sich der Liberalismus schlechterdings nicht zu erklären, sie sind
ihm unfaßbare Verirrungen des menschlichem Geistes ohne die Spur irgend
einer innern Berechtigung. Daß sie Kinder unsrer Sünden sind, daß sie er¬
wachsen sind auf dem Nährboden des schrankenlosen Individualismus, daß sie
nichts andres sind als die äußern Angriffe einer schweren innern Krankheit
unsers Volks, und daß sie trotz ihrer extremen Stellung tausendmal mehr
Verständnis für die großen Aufgaben der Gegenwart haben als die ganze
"große liberale Partei" von Herrn von Bennigsen bis zu Herrn Richter, das
zu erkennen ist das "gebildete" Bürgertum heute noch eben so weit entfernt
wie je.

Allerdings schien es zeitweilig, als wenn dem gemäßigten Liberalismus
unter der einsichtigen Führung eines weitblickenden, jede Fraktionsknechtschast
verachtenden Staatsmannes, des Herrn Miquel, allmählich die Einsicht ans-
dümmern wollte, daß es in den alten, ressenties ansgefahrnen Geleisen doch
nicht mehr recht weitergehen wolle. Das Heidelberger Programm (1884),
mit dessen Aufstellung eine scharfe Scheidung von den linksliberalen Parteien
vollzogen wurde, verlieh der nativnalliberalen Partei, die sich mit ihm auf
den Boden einer positiven Sozialpolitik gestellt hatte, einen neuen Aufschwung;
gegenüber Herrn von Bennigsen, der noch am 12. Juni 1882 in Hannover
die von ihm so oft gehißte Flagge der "großen liberalen Partei" mit den
Worten: "Die Liberalen aller Schattirungen sollen es dahin bringen, daß
ihnen die Mehrheit in den Parlamenten zufällt," zum so und so vielten male
gehißt hatte, trat Herr Miqnel, in das parlamentarische Leben zurückgekehrt,
als treibende Kraft wieder in den Vordergrund. Es schien, als wenn an
Stelle des blöden Reaktivnsgeschreis, das noch 1881 in dein Wahlaufruf der
Partei laut ertönt war, und an Stelle eines Kampfes gegen eingebildete
Gefahren, der die Partei bis an den Rand des Abgrunds gebracht hatte,
eine lebendige Beschäftigung mit den sozialen Aufgaben der Gegenwart, an
Stelle des rückwärts in die Vergangenheit gerichteten Blickes ein hoffnungs¬
reiches Arbeiten für die Zukunft treten sollte. Mau schien das Streben nach
Mehrheitsherrschaft, das Verlangen nach dein rein liberalen Ministerium
und nach "konstitutionellen Garantien" vergessen zu haben und schien sich an
die bescheidne, aber darum mir um so wirksamere und segensreichere positive


Laß nicht vom Linken dich umgarnen I

dem Kaiser Absichten unterzuschieben, die er mehr als einmal weit von sich
gewiesen hat, und im Ernste zu glauben, daß er Neigung zu einer Abänderung
der Verfassung habe, während er wiederholt ausdrücklich betont hat, das; er
in ihr eine durchaus richtige Machtverteilnng zwischen den verschiednen Ge¬
walten sehe.

Und ebensowenig wie mit dem Kaiser, vermag man sich mit den neuen
Pnrteibestrebungen gerecht abzufinden, die die neue Zeit geboren hat, mit der
sozialdemokratischen und der deutsch-sozialen Bewegung. Woher sie kommen,
das vermag sich der Liberalismus schlechterdings nicht zu erklären, sie sind
ihm unfaßbare Verirrungen des menschlichem Geistes ohne die Spur irgend
einer innern Berechtigung. Daß sie Kinder unsrer Sünden sind, daß sie er¬
wachsen sind auf dem Nährboden des schrankenlosen Individualismus, daß sie
nichts andres sind als die äußern Angriffe einer schweren innern Krankheit
unsers Volks, und daß sie trotz ihrer extremen Stellung tausendmal mehr
Verständnis für die großen Aufgaben der Gegenwart haben als die ganze
„große liberale Partei" von Herrn von Bennigsen bis zu Herrn Richter, das
zu erkennen ist das „gebildete" Bürgertum heute noch eben so weit entfernt
wie je.

Allerdings schien es zeitweilig, als wenn dem gemäßigten Liberalismus
unter der einsichtigen Führung eines weitblickenden, jede Fraktionsknechtschast
verachtenden Staatsmannes, des Herrn Miquel, allmählich die Einsicht ans-
dümmern wollte, daß es in den alten, ressenties ansgefahrnen Geleisen doch
nicht mehr recht weitergehen wolle. Das Heidelberger Programm (1884),
mit dessen Aufstellung eine scharfe Scheidung von den linksliberalen Parteien
vollzogen wurde, verlieh der nativnalliberalen Partei, die sich mit ihm auf
den Boden einer positiven Sozialpolitik gestellt hatte, einen neuen Aufschwung;
gegenüber Herrn von Bennigsen, der noch am 12. Juni 1882 in Hannover
die von ihm so oft gehißte Flagge der „großen liberalen Partei" mit den
Worten: „Die Liberalen aller Schattirungen sollen es dahin bringen, daß
ihnen die Mehrheit in den Parlamenten zufällt," zum so und so vielten male
gehißt hatte, trat Herr Miqnel, in das parlamentarische Leben zurückgekehrt,
als treibende Kraft wieder in den Vordergrund. Es schien, als wenn an
Stelle des blöden Reaktivnsgeschreis, das noch 1881 in dein Wahlaufruf der
Partei laut ertönt war, und an Stelle eines Kampfes gegen eingebildete
Gefahren, der die Partei bis an den Rand des Abgrunds gebracht hatte,
eine lebendige Beschäftigung mit den sozialen Aufgaben der Gegenwart, an
Stelle des rückwärts in die Vergangenheit gerichteten Blickes ein hoffnungs¬
reiches Arbeiten für die Zukunft treten sollte. Mau schien das Streben nach
Mehrheitsherrschaft, das Verlangen nach dein rein liberalen Ministerium
und nach „konstitutionellen Garantien" vergessen zu haben und schien sich an
die bescheidne, aber darum mir um so wirksamere und segensreichere positive


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/619>, abgerufen am 23.07.2024.