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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Seltsame Fortschritte

Teile des Grenzlandes zu Herren zu machen. Das wäre denn auch ein
Fortschritt.

Viel wichtiger ist freilich, daß der monarchische Geist, der durch die
Gründung des neuen deutschen Reiches in der ganzen Welt neu gekräftigt zu
sein schien, sichtlich überall im Rückgang ist. Jener Republikanismus, der
durch das Lesen der römischen Schriftsteller genährt wurde, und dem mancher
friedfertige Lehrer in platonischer Liebe anhing, war weggewischt, die große
Zeit wirkte gewaltiger noch auf die Jugend als auf das Geschlecht ein, das
angekämpft oder mit Begeisterung die Kämpfe mit erlebt hatte, und die Kämpfe,
die die Notschöpfung der französischen Republik erschütterten, die einmal sehr
nahe gerückte Möglichkeit, daß ein Mensch wie Boulanger Herr der Geschicke
Frankreichs werden konnte, waren nicht geeignet, die alte Schwärmerei für
republikanische Freiheit wieder zu erwecken -- zu schweigen von dem, was
jenseits des Ozeans zu beobachten war.

Woher nun der Umschwung, den nicht leugnen kann, wer nicht absichtlich
die Augen schließt? Daß die Entwicklung der Dinge unter der Präsidentschaft
Camoes das Urteil beeinflußt hat, unterliegt keinem Zweifel. Aber die Wahr¬
nehmung, daß sich auch eine Republik geordneter Zustände erfreuen kann, würde
nicht hingereicht haben ohne das Entgegenkommen von andrer Seite. In
wahrhaft erschreckender Weise mehren sich die Fälle, die den Glauben an das
monarchische Prinzip zu mitergraben geeignet sind. Wenn die Zeitungsblätter
immer aufs neue zu berichten wissen, wie Angehörige fürstlicher Häuser -- und
nicht allein hinten weit in der Türkei -- sich alles Pflichtgefühls entäußern, sich
an kein Sittengesetz gebunden erachten, so kann mau sagen, das seien Aus¬
nahmen, und solche Ausnahmen seien immer vorgekommen, nur komme alles
heutzutage in die Öffentlichkeit. Doch wissen das die Betreffenden ja auch,
auch sie bedienen sich dann und wann der "Organe der öffentlichen Meinung,"
ziehen wohl gar selbst ans helle Licht, was im Schoße der Familie aufgetragen
werden sollte. Darin gerade äußert sich die Verachtung des Urteils der Welt,
und damit werden dem monarchischen Gefühl die tiefsten Wunden geschlagen.

Mitunter wird einen: zu Mitte, als sollten wir die Zeit vor hundert
Jahren uoch einmal durchleben, und wer die ersten Jahrzehnte mit den letzten
vergleicht, könnte zu dem Schlüsse kommen, Niederlagen seien den Siegen vor¬
zuziehen. Der kategorische Imperativ, die strenge Selbstzucht, der Satz Hegels,
daß uur der gebieten könne, der gehorchen gelernt hat, sind ans der Mode.
Die ungebändigte, die rohe Natur wird in Dichtung und Kunst auf den Thron
gehoben, und Mütter, die sich vor dem Kultus der Gemeinheit entsetzen, glauben
doch, dem Evangelium Jean Jacques Rousseaus folgen zu müssen. Gewissen¬
lose Volksverführer malen den Besitzlosen ein Utopien vor, an das sie selbst
nicht glauben können, und Hetzen sie zum Umsturz der Gesellschaft auf. Und
dem gegenüber erhebt sich wieder der Grundsatz: "Alles sür das Volk, nichts


Seltsame Fortschritte

Teile des Grenzlandes zu Herren zu machen. Das wäre denn auch ein
Fortschritt.

Viel wichtiger ist freilich, daß der monarchische Geist, der durch die
Gründung des neuen deutschen Reiches in der ganzen Welt neu gekräftigt zu
sein schien, sichtlich überall im Rückgang ist. Jener Republikanismus, der
durch das Lesen der römischen Schriftsteller genährt wurde, und dem mancher
friedfertige Lehrer in platonischer Liebe anhing, war weggewischt, die große
Zeit wirkte gewaltiger noch auf die Jugend als auf das Geschlecht ein, das
angekämpft oder mit Begeisterung die Kämpfe mit erlebt hatte, und die Kämpfe,
die die Notschöpfung der französischen Republik erschütterten, die einmal sehr
nahe gerückte Möglichkeit, daß ein Mensch wie Boulanger Herr der Geschicke
Frankreichs werden konnte, waren nicht geeignet, die alte Schwärmerei für
republikanische Freiheit wieder zu erwecken — zu schweigen von dem, was
jenseits des Ozeans zu beobachten war.

Woher nun der Umschwung, den nicht leugnen kann, wer nicht absichtlich
die Augen schließt? Daß die Entwicklung der Dinge unter der Präsidentschaft
Camoes das Urteil beeinflußt hat, unterliegt keinem Zweifel. Aber die Wahr¬
nehmung, daß sich auch eine Republik geordneter Zustände erfreuen kann, würde
nicht hingereicht haben ohne das Entgegenkommen von andrer Seite. In
wahrhaft erschreckender Weise mehren sich die Fälle, die den Glauben an das
monarchische Prinzip zu mitergraben geeignet sind. Wenn die Zeitungsblätter
immer aufs neue zu berichten wissen, wie Angehörige fürstlicher Häuser — und
nicht allein hinten weit in der Türkei — sich alles Pflichtgefühls entäußern, sich
an kein Sittengesetz gebunden erachten, so kann mau sagen, das seien Aus¬
nahmen, und solche Ausnahmen seien immer vorgekommen, nur komme alles
heutzutage in die Öffentlichkeit. Doch wissen das die Betreffenden ja auch,
auch sie bedienen sich dann und wann der „Organe der öffentlichen Meinung,"
ziehen wohl gar selbst ans helle Licht, was im Schoße der Familie aufgetragen
werden sollte. Darin gerade äußert sich die Verachtung des Urteils der Welt,
und damit werden dem monarchischen Gefühl die tiefsten Wunden geschlagen.

Mitunter wird einen: zu Mitte, als sollten wir die Zeit vor hundert
Jahren uoch einmal durchleben, und wer die ersten Jahrzehnte mit den letzten
vergleicht, könnte zu dem Schlüsse kommen, Niederlagen seien den Siegen vor¬
zuziehen. Der kategorische Imperativ, die strenge Selbstzucht, der Satz Hegels,
daß uur der gebieten könne, der gehorchen gelernt hat, sind ans der Mode.
Die ungebändigte, die rohe Natur wird in Dichtung und Kunst auf den Thron
gehoben, und Mütter, die sich vor dem Kultus der Gemeinheit entsetzen, glauben
doch, dem Evangelium Jean Jacques Rousseaus folgen zu müssen. Gewissen¬
lose Volksverführer malen den Besitzlosen ein Utopien vor, an das sie selbst
nicht glauben können, und Hetzen sie zum Umsturz der Gesellschaft auf. Und
dem gegenüber erhebt sich wieder der Grundsatz: „Alles sür das Volk, nichts


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[0060] Seltsame Fortschritte Teile des Grenzlandes zu Herren zu machen. Das wäre denn auch ein Fortschritt. Viel wichtiger ist freilich, daß der monarchische Geist, der durch die Gründung des neuen deutschen Reiches in der ganzen Welt neu gekräftigt zu sein schien, sichtlich überall im Rückgang ist. Jener Republikanismus, der durch das Lesen der römischen Schriftsteller genährt wurde, und dem mancher friedfertige Lehrer in platonischer Liebe anhing, war weggewischt, die große Zeit wirkte gewaltiger noch auf die Jugend als auf das Geschlecht ein, das angekämpft oder mit Begeisterung die Kämpfe mit erlebt hatte, und die Kämpfe, die die Notschöpfung der französischen Republik erschütterten, die einmal sehr nahe gerückte Möglichkeit, daß ein Mensch wie Boulanger Herr der Geschicke Frankreichs werden konnte, waren nicht geeignet, die alte Schwärmerei für republikanische Freiheit wieder zu erwecken — zu schweigen von dem, was jenseits des Ozeans zu beobachten war. Woher nun der Umschwung, den nicht leugnen kann, wer nicht absichtlich die Augen schließt? Daß die Entwicklung der Dinge unter der Präsidentschaft Camoes das Urteil beeinflußt hat, unterliegt keinem Zweifel. Aber die Wahr¬ nehmung, daß sich auch eine Republik geordneter Zustände erfreuen kann, würde nicht hingereicht haben ohne das Entgegenkommen von andrer Seite. In wahrhaft erschreckender Weise mehren sich die Fälle, die den Glauben an das monarchische Prinzip zu mitergraben geeignet sind. Wenn die Zeitungsblätter immer aufs neue zu berichten wissen, wie Angehörige fürstlicher Häuser — und nicht allein hinten weit in der Türkei — sich alles Pflichtgefühls entäußern, sich an kein Sittengesetz gebunden erachten, so kann mau sagen, das seien Aus¬ nahmen, und solche Ausnahmen seien immer vorgekommen, nur komme alles heutzutage in die Öffentlichkeit. Doch wissen das die Betreffenden ja auch, auch sie bedienen sich dann und wann der „Organe der öffentlichen Meinung," ziehen wohl gar selbst ans helle Licht, was im Schoße der Familie aufgetragen werden sollte. Darin gerade äußert sich die Verachtung des Urteils der Welt, und damit werden dem monarchischen Gefühl die tiefsten Wunden geschlagen. Mitunter wird einen: zu Mitte, als sollten wir die Zeit vor hundert Jahren uoch einmal durchleben, und wer die ersten Jahrzehnte mit den letzten vergleicht, könnte zu dem Schlüsse kommen, Niederlagen seien den Siegen vor¬ zuziehen. Der kategorische Imperativ, die strenge Selbstzucht, der Satz Hegels, daß uur der gebieten könne, der gehorchen gelernt hat, sind ans der Mode. Die ungebändigte, die rohe Natur wird in Dichtung und Kunst auf den Thron gehoben, und Mütter, die sich vor dem Kultus der Gemeinheit entsetzen, glauben doch, dem Evangelium Jean Jacques Rousseaus folgen zu müssen. Gewissen¬ lose Volksverführer malen den Besitzlosen ein Utopien vor, an das sie selbst nicht glauben können, und Hetzen sie zum Umsturz der Gesellschaft auf. Und dem gegenüber erhebt sich wieder der Grundsatz: „Alles sür das Volk, nichts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/60>, abgerufen am 23.07.2024.